Ablage Seedstars World: Auf der Suche nach den besten Startups der Welt

Seedstars World: Auf der Suche nach den besten Startups der Welt

Von ihrer Musterkarriere hatte Aliseé de Tonnac die Nase voll. Also tauschte die Beautymanagerin ihre High Heels gegen Trekkingschuhe und spürt seitdem die besten Startups von Afrika bis Asien aus.

Die Horrorbotschaft ereilt Alisée de Tonnac während einer Überfahrt auf dem Rücksitz eines klimatisierten, brandneuen Autos durch Sofia. Eben noch hat sie von der bulgarischen Hauptstadt geschwärmt, vom allgegenwärtigen W-Lan, den unkomplizierten Menschen, den entspannten Vibes. „Wenn ich Sofia beschreiben soll, fällt mir nur ein: Easy! Alles ist easy!“ Da öffnet sie den Link einer E-Mail. Ein neues Ranking der Economist Intelligence Unit zur Lebensqualität von 70 Städten weltweit. „Oh nein, ernsthaft?“, ruft sie aus. „Ratet, wer Platz 69 belegt!“ Es ist Lagos, die größte Stadt Nigerias – und wahrscheinlich Tonnacs neue Heimat für mindestens mal ein Jahr. „69, also echt!“, lacht sie mit leicht gequältem Gesicht. Und summt dann wieder zur Radiomusik mit, „Be My Lover“ von La Bouche.

Der Schock sitzt nicht tief, die 27-Jährige weiß längst, auf was sie sich einlässt. Als sie vor zwei Jahren das erste Mal nach Lagos reiste, als sie im Auto vom Flughafen in die Stadt fuhr, begleitet von obskuren, mit schweren Halsketten behängten Zweimetertypen, da dachte sie wirklich noch, sie würde sterben. Die 1 500 Dollar pro Tag für bewaffnete Bodyguards konnte sie sich nicht leisten. Jetzt sagt sie: „Die Chancen für Startups in Nigeria sind gewaltig, und in eines haben wir schon investiert. Es macht Sinn, dahin zu gehen.“ Eigentlich ist die Entscheidung gefallen, ihr Freund Pierre-Alain schon oft dort, trotzdem: Es gibt noch kein Flugticket, kein Visum, und außerdem stehen noch Startup-Wettbewerbe im Iran, in Saudi-Arabien und Dubai in ihrem Kalender. Wer weiß, was noch alles passiert. „Bei L’Oréal war mein Planungshorizont 60 Jahre. Jetzt ist es höchstens ein Monat“, sagt Tonnac lakonisch.

L’Oréal. Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, sich die kleine, zierliche Französin, die jetzt am liebsten löchrige Jeans und T-Shirt trägt, im Kostüm vorzustellen. Wie sie als 23-jährige Produktmanagerin für Lancôme und Giorgio Armani durch Mailand stöckelt, die Haarpracht dabei sitzt. Ihr ganzes Leben habe sie sich vom Glamour angezogen gefühlt, immer nach etwas Großem gestrebt, sagt sie. Als Kind und Teenager an Eliteschulen in Singapur, im Silicon Valley und Frankreich waren es die besten Noten, dann der perfekte Lebenslauf – bis sie ihr Umfeld nicht mehr ausstehen kann und sich selbst auch nicht. Diese oberflächliche Alisée, die ständig jammert, die Kollegen, die die Jahre bis zur Rente zählen. „Du musst ein gewisses Maß an Langeweile angehäuft haben, bis du merkst, dass du dich verändern muss“, sagt sie. Und in diesem Moment trifft sie auf Pierre-Alain Masson.

Ein Freund von Freunden, eine Party in Lausanne. Der 29-jährige Seriengründer sagt, er müsse vor seinem 30. Geburtstag auf Weltreise gehen und herausfinden, was Unternehmer in Peru und Indonesien machen, ein globales Netzwerk aufbauen. Da platzt Tonnacs L’Oréal-Blase, sie weiß sofort, dass es so etwas ist, wonach sie sucht. Als sie Masson einen Monat später wiedertrifft, sagt sie, dass sie mitwill. Da ist es September, sie kündigt sofort ihren Job, verlässt ihren Freund, zieht nach Ablauf der Kündigungsfrist zu Masson in die Schweiz. Um zusammen weltweit nach Partnern in der Startup-Szene zu suchen – und sich gegenseitig abzuchecken.

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Universelle Individualität: Kaum eine Hauptstadt dieser Welt kommt heute ohne kunterbunten Coworking-Space aus. In Sofia tummeln sich die Gründer des bulgarischen Accelerators Eleven im ersten Stock des Vivacom-Gebäudes, wo Alisée de Tonnac und Igor Ovcharenko (r.) das Seedstars-Pitch-Event vorbereiten.

Im März sitzt sie mit einem 18-Kilo-Rucksack – Garderobe: zwei Hosen, zwei Pullis, eine dünne Outdoorjacke, ein Paar Trekkingschuhe, ein Paar Ballerinas, eine Mütze – und 20 Flugtickets in einem Flieger nach Russland. Dort zieht sie alles an, was sie hat, zu wenig. Bei minus 25 Grad halten sie in Moskau ihren ersten regionalen Startup-Wettbewerb ab. In den nächsten zehn Monaten folgen 19 weitere, von Aserbaidschan bis Chile.

„Ich hatte einige Freak-out-Momente, in denen ich dachte: ,Was mache ich da?‘“, gesteht sie. Einfach wegzurennen mit einem Typen, den sie kaum kennt, mit Geld für gerade mal drei Monate, mit den Stimmen der Kollegen und Freunde im Ohr, dass sie ihr Leben ruiniert, ihren Lebenslauf, ihre Karriere. „Diese Welt ist ein wenig wie eine Sekte. Man hat das Gefühl, dass man nicht gehen kann“, sagt sie in ihrem prononcierten Englisch, dessen Akzent nicht wirklich französisch klingt, nur Konsonanten wie P und T spricht sie sehr bestimmt und deutlich. Sie hält sich an einem Gedanken fest: „Ich habe so viel Zeit damit verbracht, am perfekten CV zu arbeiten, und es war falsch. Also kann man genauso gut etwas Falsches tun, und es könnte funktionieren.“

30 000 Euro und los. Egal, wohin.

Tonnac hat ihre Karriere nicht ruiniert, sie hat ihr nur eine ganz andere Richtung gegeben. Tonnac ist jetzt CEO von Seedstars World, einem weltweiten Startup-Wettbewerb, der 2015 in die dritte Runde geht. Der Gewinner jedes Länderwettbewerbs wird zum Finale nach Genf eingeladen und Investoren vorgestellt. Tonnacs ehrgeiziges Ziel lautet: Mit seiner globalen Expertise soll das Netzwerk die Adresse sein, an die jeder sich wendet, der in Emerging Markets rekrutieren, investieren oder exportieren will. Ein Zentrum für Marktinformation. Und der Wettbewerb soll zur Olympiade für Startups werden.

Sponsoren für die erste Welttournee von Seedstars World fanden Tonnac und Masson unterwegs. Mit ihren knapp 30 000 Euro Startgeld aus eigenen Ersparnissen und von ersten Förderern wären sie nicht weit gekommen. Aber Tonnac will nicht dauerhaft vom Wohlwollen anderer leben. Deshalb kürt Seedstars World jetzt auch Gewinner in einzelnen Branchen – das ist für Konzerne interessant. Es gibt nun ein Fintech- und ein Reise-Vertical, das die Lastminute.com-Gruppe als Corporate Partner mit 500 000 Dollar finanziert. Dazu kommt ein Sonderpreis für Startups rund um Space-Programme. Und Seedstars World selbst investiert in Minderheitsanteile bei den Gewinnern des Wettbewerbs: 2013 war es das nigerianische Fintech-Unternehmen Simplepay, das eine Art Paypal für Afrika aufbaut.

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Der Wettbewerb: Je sechs Minuten haben Bewerber, um in ihren Ländern bei Seedstars World zu pitchen, vier Minuten, um die Fragen der Jury zu beantworten. Der globale Gewinner bekommt ein Investment von 500 000 Dollar, auch regionale Gewinner werden Investoren mit konkreten Vorschlägen präsentiert. Der globale Startup-Wettbewerb Seedstars World ist eine Tochter des Company-Builders Seedstars, der selbst Startups lanciert und weiterentwickelt und zu dem auch noch die Seedstars Academy und ein Coworking-Space gehören.

Als Frontfrau für Seedstars World schlüpft Tonnac jetzt in viele Rollen. Vergangenes Jahr hat sie zwei Mitarbeiter auf Welttournee in 36 Länder geschickt, während sie selbst von Genf aus die Organisation aufbaute. Für Abendessen mit Investoren zieht sie wieder die High Heels an – eine alte Liebe, die nicht stirbt; auf internationalen Techkonferenzen steht sie im blauen Seedstars-Hoodie auf der Bühne, sie ist Innovation Fellow des Techmagazins „Wired“. Und jetzt, im dritten Jahr der Startup-Jagd, reist sie wieder punktuell in neue Länder. Um frische Teammitglieder zu unterstützen. Und weil es eben doch der aufregendste Teil ist.

Auch wenn die Orte jetzt gezielter ausgewählt werden – beim ersten Mal war die Frage: Wo gibt es zumindest irgendeinen Kontakt? – und die Events längeren Vorlauf haben als bei der ersten Reise: Die Seedstars-Scouts gehen noch ebenso hemdsärmelig an die Sache ran. Vier Zweierteams sind parallel unterwegs und decken über mehrere Monate je eine Weltregion ab. Hotels sind tabu, wenn irgend möglich, couchsurfen die Seedstars-Mitarbeiter bei lokalen Partnern.

Couchsurfing aus Überzeugung

Von Anfang an ging es dabei nicht nur ums Geldsparen: „Wenn man nur zwei Wochen in einem Land hat, muss man so schnell wie möglich eintauchen. Wir haben mit Entrepreneuren gegessen, wir haben bei Entrepreneuren geschlafen, wir haben mit Entrepreneuren geatmet, wir haben alles mit Entrepreneuren gemacht“, sagt Tonnac. „Ich hoffe, das bleibt immer so, und Seedstars wird nicht irgendwann zu groß und gierig.“ Tonnac hat ihren Schlaf- und Arbeitsplatz diesmal in der kahlen Junggesellenwohnung eines bulgarischen Bekannten aufgeschlagen.

Am Vormittag des Sofia-Events streift sie allein durch den ehemaligen Telekommunikationspalast von Sofia, einen innen mit Marmorwänden ausgekleideten sozialistischen Prunkklotz, stellt Stühle auf und heftet kleine Poster mit Inspirationssprüchen an die Wände. Ihr ukrainischer Kollege Igor wird heute den Wettbewerb moderieren, es ist sein erster. Später kaufen sie zusammen bei Lidl Pappbecher und Chips, Ersatzbatterien für die Mikrofone. Am Nachmittag ist sie erschöpft. Gestern Abend, beim Essen und Feiern mit den bulgarischen Jurymitgliedern, ist es spät geworden. Sie, die Alkohol sonst komplett aus dem Weg geht, weil er ihr nicht schmeckt, musste Rakia und dann Cocktails trinken: Sie hatte gegen Igor eine Wette verloren, wollte einfach nicht glauben, dass man in Bulgarien mit Kopfnicken Nein sagt. Igor war halt schon ein paar Tage länger da.

Für jedes regionale Pitch-Event organisiert Seedstars World eine Jury aus lokalen Experten. Hier die bulgarischen Unternehmer und Investoren (v.l.n.r.) Dilyan Dimitrov (Accelerator Eleven), Stoyan Angelov (wSwipe), Chris Georgiev (Imagga) und Lino Velev (Obecto).

Jetzt steht der unsicher zur Probe am Mikrofon und rattert Powerpoint-Slides runter: „55 countries, 2500+ startups screened, 800+ invited to pitch, 50+ local winners“. Die Chefin ist unzufrieden, viel zu spät habe er sich vorbereitet, erst am Tag des Events selbst. Wo sie und Masson doch vor ihrer ersten Präse in Russland eine Woche lang kaum geschlafen haben. „Vergiss das Skript, du bist ein cooler Typ und hast so viel Emotion. Mach ein paar Liegestützen, wenn du dein Adrenalin noch hochtreiben musst. Ich bin auch jedes Mal rot und verschwitzt!“, peitscht sie ihm ein. Und wird dann etwas sanfter: „Ich muss dich in diese unangenehme Lage versetzen, weil du in zwei Stunden drin sein wirst. Du hast einen großen Fehler gemacht, okay, aber who cares? Du bist gut, und du weißt es.“

Tonnac selbst weiß, dass sie perfektionistisch ist. Und dass auch an L’Oréal nicht alles schlecht war. „Der menschliche Druck dort ist so riesig, dass ich viel gelernt habe. Ich respektiere die Leute, die in solchen Unternehmen arbeiten, weil sie ein gewisses Arbeitsethos haben, das vielen Entrepreneuren fehlt“, sagt sie. Und woher ihr großer Ehrgeiz kommt? Keine Ahnung, ihren drei Geschwistern geht er jedenfalls ab. „Es wäre interessant, mal einen Psychologen aufzusuchen“, sinniert Tonnac. Wie es nach Lagos oder nach Seedstars einmal weitergeht, weiß sie auch noch nicht. Nur so viel: „Ich hoffe, dass ich mich noch mehrere Male neu erfinden werde.“ Luft nach unten hat Alisée de Tonnac jedenfalls noch: Auf Platz 70 von 70 nennt der „Economist“ Harare, Hauptstadt von Simbabwe.

Der Text rund um Alisée de Tonnac und Seedstars World stammt aus der aktuellen Business Punk 04_2015. Titel-Thema: $UCCESS BY DRE – der Aufstieg des Hip-Hop-Moguls zum reichsten Rapper der Welt. Das brandneue Heft gibt es übrigens HIER!

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