Leadership & Karriere Mythos Mitte: Feinste Anekdoten aus Berlins Startup-Szene

Mythos Mitte: Feinste Anekdoten aus Berlins Startup-Szene

Wie ein paar schlaue Typen aus Berlin Europas wichtigste Startup-Metropole gemacht haben – und sich selbst eine ziemlich gute Zeit.

Es ist Mitte Dezember 2016, vier Uhr am Morgen, und ich laufe meinem Ex-Chef in die Arme. Er will in Kreuzberg in ein Taxi auf dem Rücksitz einsteigen und lacht dabei laut. Er hat Freunde dabei, Typen in selbst gebastelten, komplizierten Verkleidungen, die ihre darunter liegenden nackten Oberkörper betonen. Die Freunde haben außerdem Schwierigkeiten, mit ihren stacheligen, bunten Outfits ins Taxi zu passen. Daher das Lachen. Ich habe diesen Menschen seit Jahren nicht gesehen, nicht, seitdem sein Unternehmen, bei dem ich einen Job hatte, quasi vom einen auf den anderen Tag dichtgemacht wurde und er in die USA zurück ist. Aber ich erkenne ihn sofort: die aufgekratzte, dramatische Stimme, mit der er damals oft über die Gänge gewetzt ist, um allen eine „awesome“ Woche zu wünschen. Mit der er an heißen Tagen lachend Eis verteilt hat. Der Montagmorgen-Kick-off, aus dem wir jedes Mal mit diesem großen Lachen entlassen wurden. Die vergisst man nicht.

Mein Ex-Chef steht also am Taxi und erkennt mich. Lächeln, Nicken, no way, how are you. Blick in die Augen. Der zauberhafte Moment, wenn zwei Menschen gleichzeitig der festen Überzeugung sind, dass der andere mächtig auf was für Zeug auch immer unterwegs sein muss. Meine Annahme gründet darauf, dass er im tiefen Berliner Schneetreiben steht, dabei aber nur eine kurze, neonfarbene 90er-Jahre-Fahrradhose anhat, obenrum so etwas wie einen Pelzmantel, darunter ein zerrissenes Tanktop, sich außerdem regungslos das Gesicht vollschneien lässt. Seine Annahme gründet auf gesundem Menschenverstand: Kreuzberg, vier Uhr. Einen Augenblick später sitze ich neben ihm auf dem Rücksitz. „Kitkatclub, please“, wird der Fahrer instruiert.

Ich sage ihm, dass ich es fast nicht glauben kann, ihn zu treffen. Ausgerechnet jetzt. Wieso, will er wissen. Ich sage, dass ich gerade eine große Geschichte schreiben will und recherchiere. Über Berlin, wie es kommt, dass Berlin seit Jahren attraktiv ist. Für Gründer, wie er einer war. Oder noch ist? War, sagt er. Jedenfalls: für Leute mit Geschäftsideen, Visionen, Lust auf Andersmachen. Warum diese Leute schon seit Jahren hier an- und durchgespült werden. Wie es sein kann, dass die nicht wie vielleicht anderswo aus der Stadt gelacht werden, sondern dass man sie oft einfach machen lässt. Schlangenöl und sehr ernstes Business dicht beieinander, wer weiß, was am Ende von den beiden Erfolg hat, vielleicht sogar beides, auszuschließen ist es nicht. Er nickt. „Awesome“, sagt er und lacht. Dann halten wir vor dem Club.

Geschminkte Typen, Leder überall, unnötig Nackte. Mein Ex-Chef grüßt fast jeden. Das ist sein Ding, so ein verlängertes Wochenende an der alten Wirkungsstätte. Der Mann ist derzeit in den USA an Ost- und Westküste unterwegs, gönnt sich eben aber auch mal Auszeiten. Das war schon damals so, als das US-Unternehmen zu Spitzenzeiten 2012 und 2013 fast 1 Mrd. Dollar wert war und er sich von überall auf der Welt bei uns im Berliner Büro mit motivierenden Updates meldete. Dann implodierte das Ding. Vor einiger Zeit wurden die Reste für ein paar traurige Millionen Dollar an eine Gruppe irgendwo verhökert. Das alles hat er schon nicht mehr mitbekommen, weil er unsere Firma unmittelbar vor dem Fuck-up verlassen hat und sich daheim in den USA die Wunden geleckt hat. Dort dann, das haben wir über Facebook mitbekommen, die bewährte Gründertherapie: erst einmal Rumreisen. Ein bisschen Selbstfindung. Foto-Uploads von Büchern, die er selber mit „Must Read! Inspiring“ kommentiert hat. Ich habe den Verkauf der Firmenleiche schließlich mitbekommen, weil ich dann und wann mal die ganzen Start­ups durchgehe, für die ich schon gearbeitet habe, mir dabei dasselbe flaue Gefühl abhole, das man bekommt, wenn man das sonnige Instagram-Profil einer Ex-Freundin stalkt.

Ich sehe meinem Ex-Chef dabei zu, wie er tanzt und lacht und grüßt, und mir fällt ein, dass er schon immer dieses Selbstverständnis hatte: Nur weil man ein fast milliardenschweres Unternehmen leitet, muss man sich noch lange nicht so benehmen – ist es denn nicht gerade die Andersartigkeit, die einen bis hierhin gebracht hat? Die einen in Berlin nach oben befördert, einem den nötigen Auftrieb verliehen hat? Es gibt noch Videos davon, wie er durch unser Office radelt. Klingeling, hier ist er, der Un-trepreneur. Der Mann mit dem bunten Startup, lange, bevor eine Mainstream-Welt bei „Galileo“ von Bällebad und Office-Rutsche erfahren und genervt mit den Köpfen geschüttelt hat. Nirgends bin ich so frei wie hier, sagt er jetzt, an der Theke. Berlin ist der Ort, an den ich immer wieder zurückkomme, erzählt er. Wo ich ich sein kann. Und die geschäftliche Niederlage? Der plötzliche Weggang damals, als er ein sterbendes Unternehmen verlassen hat? Ist vergessen. Ich habe genug anderes gemacht, um das zu verschmerzen. Seine damaligen Angestellten haben es nicht so gut verschmerzt, die waren enttäuscht, wütend, haben sich noch monatelang in einer geheimen Facebook-Gruppe Links zu Updates von ihm und anderen Managern zugeschickt, in der sie ihrem Ärger Luft gemacht haben.

Aber das ist der falsche Ort, ihm das zu sagen. Ich schreie ihm stattdessen noch ein paar Fragen ins Ohr. Würde er noch mal hier gründen? Nein. Wieso nicht? Weil Deutschland als Markt zu schwierig ist. Ich frage ihn, ob er das ernst meint, immerhin steht er hier in einem Fantasiekostüm und beobachtet mehrere erwachsene nackte Männer dabei, wie sie sich um den Platz auf dem Gynäkologiestuhl streiten. Was soll hier schwierig sein? Antwort: Es gibt Deutschland, und es gibt Berlin. Wenn ganz Deutschland Berlin wäre, dann würde ich es mir noch mal überlegen. Überhaupt Gründen: Das ist ein Spiel für junge Typen. Dafür fühlt er sich jetzt zu alt. Lieber sich als Berater anstellen lassen. Es gibt genügend Unternehmen, die ihm für ein paar Tipps hier und da extrem viel Geld zustecken und seinen Fuck-up als wichtige Währung werten. Er überlegt noch ein bisschen, sagt dann: In Berlin kann ich manchmal nachts die Sterne sehen, wenn es sehr dunkel ist. Das mag ich, sagt er. Ein Satz, der aus dem Nichts kommt. Kurz danach verliere ich ihn im Getümmel. Ab ins Taxi, nichts wie weg.

Wochen später kommt eine Nachricht. Schreibst du eigentlich wirklich diese Geschichte, will er wissen. Ja, antworte ich. Wieso? Es vergehen ein paar Tage, bis er schreibt, dass ich seinen Namen rauslassen soll. Die Gründe müsse er wohl nicht nennen. Smiley.

Irgendwie verständlich. Alles ist hier erst mal möglich und leicht gesagt und awesome, aber sobald man dieses Bonuslevel namens Berlin verlässt, ist das alles gar nicht mehr so klar. Dann kommen das Nachdenken und die Nüchternheit. Ich schreibe: Ich kann die Geschichte erzählen, aber den Namen rauslassen. Okay? Antwort, wieder Wochen später: Okay, sure. And say hi to Berlin. Ich verspreche ihm, dass ich Hi sage.

Zehn Jahre Rocket Internet

Aber fangen wir woanders an – an viel institutionellerer Stelle: Vor ziemlich genau zehn Jahren haben Marc, ­Alexander und Oliver Samwer in Berlin ein Unternehmen gegründet. Noch eins. Das aber sollte gigantisch werden. Sie nannten es Rocket Internet. Davon hat damals niemand so richtig etwas mitbekommen. Denn ihr European Founders Fund war sehr viel präsenter, da lag das Geld, das aus den großen Exits von Jamba und Alando, dem Samwer’schen Ebay-Klon, stammte. Der Founders Fund funktionierte als Risikokapitalgeber, der auch Rocket Internet finanzierte; bei Rocket Internet selber haut man dagegen Unternehmen vom Reißbrett raus. Die erdige, verschwitzte Bude, die kleine Startups erfand und sie nährte und wachsen ließ. Unternehmen mit Namen, die vom billigen Bot generiert schienen. Spaceways, Tripda, Vendomo. Kein Wunder, dass da erst mal die Aufmerksamkeit eher zurückhaltend war.

Rocket Internet sollte erst später stellvertretend für alle jungen Unternehmen der Stadt Berlin stehen, dann sollte es an die Börse, was 2014 auch gelang, dann sollte es Verruf über die ganze Branche bringen, letztlich jetzt als Sorgenkind gelten: Börsenwert fies gesunken, Topmanager im Streit gegangen, seit Jahren schon hat Rocket den Ruf eines freudlosen, unangenehmen Arbeitsplatzes. Neulich veräußerte zudem der wichtigste Rocket-Investor Kinnevik einen großen Haufen seiner Anteile, was finanziell für weitere Oh-no-Momente beim Vorzeige-Inkubator sorgt.

Aber das Rezept, das anfangs ziemlich gut funktionierte, war beachtlich: Man nehme für ein neues Rocket-Unternehmen eine in den USA bewährte Geschäftsidee und kopiere sie gnadenlos unter neuem Namen. Und das so gut, effizient und klar, dass man das so gegründete Unternehmen problemlos in fast alle Märkte der Welt drücken kann. Schnell, hungrig, rabiat. Samwer feierte sich in geleakten Memos berüchtigterweise als „most aggressive man on the internet“. Viele mussten sich an den Mann gewöhnen wie an leichte Kopfschmerzen: Doch, doch, so einen richtigen Valley-Beißer hatte man jetzt in Berlin. Einen, der einfach nicht aufhört, der weder Stopp noch Sonntag kennt. Samwers weiteres Konzept: In den angegriffenen Märkten erwirtschaftet man dann entweder Profite und macht das Geschäft groß und größer, oder man spekuliert darauf, dass der am Markt bereits ansässige Platzhirsch entnervt den lauten Neuling kauft und es zum Exit kommt, dass Geld fließt, Cash, Baby, yeah. So wie einst bei Samwers 50-Mio.-Dollar-Exit mit dem Ebay-Klon Alando im Jahr 1999.

Dazu hole man sich junge Typen von den BWL-Unis und stelle ihnen eine Karriere in Aussicht, die tatsächlich viel Arbeit in Eigenverantwortung bietet. Mittzwanziger, kann aber nicht schaden, wenn sie noch jünger sind. Man schleuse diese rosigen Gesichter durch die Stadt, durch Rocket-Startups hier und da, schließlich setze man sie auf Positionen in aller Welt, wo sie wieder viel arbeiten und in kürzester Zeit das Konzept aufziehen. Es ist die moderne Variante vom Wehrdienst: Wer den Rocket-Inkubator durchgegangen ist, verliert nicht viele gute Worte über die Zeit, ist aber anschließend für die harte Schule dankbar. Gerade wenn man später selber gründen will, gilt ein Rocket-Hintergrund als unentbehrlich. Außerdem – auch das hört man oft – wollen viele die im Schwellenland in tropischen Temperaturen verbrachten Jahre meistens dann doch nicht missen.

Das Problem ist, dass dieses Konzept nicht mehr so richtig greift, dass es sich wohl selbst überlebt hat. Kopieren, Klonen, Startups, die keinen Gewinn erzielen. Jetzt, zum zehnten Geburtstag, wird Rocket Internet an vielen Stellen mit großer Lust totgeschrieben. Seit ein paar Jahren bereits gibt es Websites, die jene Unternehmen auflisten, die bei Rocket Internet eingegangen sind. Es sind nicht wenige. Oft steht als Kommentar darüber, dass Oliver Samwer einen Großteil der aufgeführten Dinger wohl selber vergessen haben dürfte.

News der Oh-Shit-Variante

Jetzt also Angst: die Angst, dass Startup-Berlin nicht erwachsen genug wird, um richtig viel Geld reinzubekommen. Überall steht, dass die großen Exits fehlen, die Börsengänge, und Rocket Internet, das Exits und Börsengänge als Dauerprogramm angekündigt hatte, bekommt sie nicht hin. Zwar ist das Ökosystem in Berlin schön gewachsen und hat nach unten, downstream, ganz neue Arten der Existenz ermöglicht, aber was, wenn es ganz oben nicht mehr weitergeht? Das böse Wort vom Hype macht die Runde, vom Platzen der Blase, wäre ja nicht das erste Mal. Erinnerungen an die Jahrtausendwende werden abgerufen. Es geht ein bisschen die Angst um, dass es einfach nicht reicht, dass das bisher Geschaffte nicht genügt. Man ist einen großen Nachweis schuldig, die Vorschusslorbeeren wollen jetzt verdient werden. Internationale Investoren haben wenig Geduld. Viele fragen: Wo ist der Börsengang, der die Geduld der letzten Jahre rechtfertigt?

Was aber auf jeden Fall passierte: Jeder hat einen neuen und anderen Begriff von Wirtschaft bekommen. Es war cool, sich damit zu beschäftigen. Der Karriere im Konzern wurde eine Art Gründen mit Stützrädern als attraktive Alternative zur Seite gestellt. Und man ist in Berlin, was vor 15 Jahren noch ein Hard Sell war, mittlerweile aber als starkes Argument gilt.

Aber jetzt, zehn Jahre nach Gründung von Rocket Internet, sind viele der jüngsten News aus der Szene durchaus der Oh-Shit-Variante zuzurechnen. Zum Beispiel aktuell bei Soundcloud. Die mussten vor ein paar Wochen tatsächlich einen Kredit aufnehmen, so wie eine Privatperson, die der Carport schick machen will. Soundcloud bekam 70 Mio. Euro. Das ist nicht gut, wenn keiner investieren will und sein Geld bei einem Unternehmen als gut angelegte Einlage betrachtet. Es ist auch gar nicht gut für Berlin, wenn ein Leuchtturmprojekt wie Soundcloud kränkelt.

Ganz egal, was aus Berlins Startup-Szene wird, ein Verdienst ist den Samwers und ihrer Beharrlichkeit sicher: Sie haben in den letzten Jahren die Stadt geprägt, eine neue Wahrnehmung von Berlin geschaffen. Sie haben deutschlandweit Aufmerksamkeit auf junge Unternehmen gelenkt, Interesse entfacht. Auch ihretwegen schaffte es eine Show wie „Die Höhle der Löwen“ ins Abendprogramm und brachte dem Mainstream nahe, was Finanzierungsrunden sind, was das Wort Pivot bedeutet, dass du lean sein musst, immer lean und agile, um Himmels willen niemals nicht lean. Und noch etwas ist wohl ihnen anzurechnen: Wer es mit seiner Idee, mit seiner Energie nirgendwo anders schafft, dem bieten sich in Berlin zumindest Möglichkeiten. Vor allem den Samwers und Rocket Internet verdanken wir den Mythos Mitte und viele seiner Protagonisten. Hier sind ihre Geschichten.

Wovon Startup-Berlin redet, wenn es Berlin-Mitte meint: Es gibt dieses Aufeinandertreffen von fünf Straßen in Berlins ungefährem Zentrum. Das ist der Rosenthaler Platz, der kein Platz ist, sondern eine große Kreuzung. Oben fährt die Tramlinie M1, die Partybahn, in der man am Wochenende zerquetscht wird, unten die U-Bahn-Linie 8, die Neukölln und Reinickendorf miteinander verbindet und dabei Mitte durchschneidet. Nach Norden führen die Brunnenstraße und die Kastanienallee, in unmittelbarer Rosi-Nähe beides ehrenwerte Nullerjahre-Gründerecken, zwischen denen der Weinbergspark liegt. Der lädt mit seinem kleinen Hang zum Sonnenuntergangansehen die ein, die keine Spätschicht schieben müssen.

Fährt man die Brunnenstraße entlang, landet man im Wedding, was man eigentlich nicht will. Am Ende der Kastanienallee wartet dann der Prenzlauer Berg, jener Bezirk, der seit Jahren für alle denkbaren Spießer-Stereotype herhalten muss. Zu Recht: Was zu DDR-Zeiten eine eher rattige Gegend war, ist nun eine schaurig-zuckrige Version von deutschem 2.0-Feenland, das sich einem nie und nimmer erschließen wird. Also besser unten am Rosenthaler Platz bleiben.

Dort kann man die Rosenthaler Straße entlang nach Süden gut auf den Fernsehturm blicken. Interessanter ist aber das Schauspiel, wie dort Taxis immer wieder Touristen zur Seite hupen müssen, die auf der Straßenmitte stehen, um schnell vom Straßenzug samt Fernsehturm ein Foto zu machen.

Jedenfalls ist der Rosenthaler Platz seit Urzeiten Sinnbild für Startup-Mitte. Weil hier das Café Sankt Oberholz liegt, wo der Legende nach Firmengründungen stattgefunden haben und Deals eingetütet wurden. Wo sich die Szene in ihren Anfangsjahren traf, als Unternehmen noch drei oder fünf Mitarbeiter hatten und sich bequem um einen Tisch im Café scharen konnten. Weil das W-Lan stabil war, es genügend Steckdosen gab und man lange sitzen konnte. Die Unternehmen sind größer geworden und besetzen jetzt oft eigene Etagen. Aber der Ort hat sich seinen Mythos bewahrt. Auch weil man hier nach wie vor alle trifft, die gerade etwas Interessantes machen – oder gute Beobachter sind. Wie zum Beispiel Alexander Hüsing, der seit Jahren über die Szene ganz nah dran berichtet.

Zeit für einen Exit – gerne zwei

Hüsing kann sich beim besten Willen nicht an den Namen des tragischen Typen erinnern, der eigentlich Youtube gemacht hat. Oder auch nur an den Namen des Unternehmens, mit dem der das Produkt damals verkaufen wollte. Aber er weiß noch, wo er saß: „In der Chausseestraße. Das war 1998 oder 1999. Und das ist mir erst Jahre später in den Sinn gekommen: dass der mit seiner Idee viel zu früh dran war. Denn eigentlich war das, was der gemacht hat, die frühe Form von Youtube. Aber der ist damit dann völlig gegen die Wand gefahren.“

Im Gegenteil dazu erinnert er sich bestens daran, wie es war, als er Mitte der Nullerjahre großen Wirtschaftszeitschriften das Thema Startups vorgestellt hat. Die sagten ihm, dass er wiederkommen sollte, wenn diese komischen kleinen Klitschen eine Million Nutzer hätten, wahlweise 100 Mio. Euro Umsatz. Kein Mensch hat sich für die neuen Geschäftsmodelle interessiert. Hüsing schon. Und wie.

Jetzt sitzt er im Commonground gegenüber dem Oberholz, schön bequem in einer Nische, und wäscht einem gleich mal den Kopf: Der Exit muss her. Für Berlin. Den ganzen Standort. Mit den langen, dunklen Haaren und dem Fünftagebart sieht er so aus, als würde er gleich ein Plektrum aus der Hosentasche zaubern. Aber nix mit Musik: Hüsing hat im Jahr 2007 die Plattform Deutsche Startups mitgegründet, eine Art Branchendienst, reines B2B, aus der Szene für die Szene. Wenn er schon nicht bei anderen Redaktionen das Großwerden der Startups begleiten konnte, dann eben Selbermachen. Schon kurz nach dem Launch von Deutsche Startups meldeten sich die Zeitungen, die seine Artikelideen einst verschmäht hatten, fragten ihn, ob er nicht interessante junge Unternehmen kennt, über die sie schreiben könnten. Und seitdem ist Deutsche Startups auch für andere Infoquelle und Qualitätsfilter: Was da erscheint, kann für die großen Magazine relevant werden.

Manchmal beschweren sich Gründer bei ihm, dass sie in der Heimatpresse noch immer als die skurrilen Typen mit den irren Ideen dargestellt werden. Dass die Zeitungen in den Berichten dann über die Frisur schreiben, nicht über die Geschäftsidee. Das gab es früher zuhauf, vielleicht weil auch die sensationellen Zahlen fehlten, über die man hätte schreiben können: „Vor zehn Jahren gab es keine Startups, die 60 oder 70 Mio. Euro reingeholt haben. Da war es eine Riesenmeldung, wenn jemand 5 Mio. Euro bekommen hat. Das melden wir heute gar nicht mehr.“ Über Frisuren würde er ohnehin nie schreiben, nie, weder damals noch heute.

Überhaupt: Wenn Startups auf ihn zukommen und wollen, dass er über sie berichtet, dann weiß er: Entweder die brauchen Geld. Oder aber deren HR-Department macht Druck. Man kann keine Mitarbeiter bekommen, wenn es keine Artikel über einen gibt. „Wenn man den Eltern nicht zeigen kann, dass auch andere schon über das Unternehmen, bei dem man arbeiten könnte, geschrieben haben, wird es nie die Zustimmung von Mama geben. Das fliegt vielen Startups um die Ohren.“ So erzählt jemand, der in der Branche schon alles gesehen hat.

Und gehört, nicht zuletzt an Nebentischen im Café: Infos bekommt man dann und wann einfach so, dass man zufällig Informationen über Finanzierungsrunden mitbekommt, über Fuck-ups, einfach weil einer am Nachbartisch ein bisschen zu laut geredet hat. Hüsing hat für Deutsche Startups eine Liste an Hotspots verfasst, wo einem das in Berlin besonders oft passieren kann.

Und Hüsing kennt sie alle, die Berliner Gründer. Vor zehn Jahren noch alle mit Handschlag, die Szene war so klein, und Hüsing hatte Jahre zuvor schon beim Medienbranchendienst Kress das Thema Startups betreut, kannte daher vorher bereits viele Protagonisten. Das ist heute schwieriger. Trotzdem hat er eine beneidenswerte Vogelperspektive auf die Unternehmerwelt, deutschlandweit.

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