Leadership & Karriere Wir waren in einer Firma zu Besuch, wo alle Chef:in sind

Wir waren in einer Firma zu Besuch, wo alle Chef:in sind

Erdbär hat als Unternehmen freilich so viel mit Hierarchien zu tun wie die Berliner Polizei mit Ton Steine Scherben: Das Unternehmen wurde 2010 von Natacha und Alexander Neumann gegründet und vertreibt Fruchtsnacks und herzhafte Snacks für Kinder. Bei Erdbär gibt es ein eigens entwickeltes System fürs Arbeiten ohne Hierarchien. Es beruht, mit einigen Anpassungen, auf den Ideen der sogenannten Holacracy.

Was ist Holacracy?

Kürzestmögliche Erklärung: Niemand schreibt anderen etwas vor, aber alle Aufgaben werden ganz genau verteilt. Durchgetaktet wie ein Fließband, flexibel wie ein Gummiband.

Länger: Das holokratische Unternehmen ist in Kreise eingeteilt, die jeweils einem klar ausformulierten Ziel dienen (Beispiel: die Verkaufszahlen maximieren). Die sind zwar so etwas Ähnliches wie Oldschool-Teams, aber mit lauter gleichrangigen Mitgliedern. Der sogenannte Lead Link ist dafür zuständig, dass die Kreise sich organisieren, also etwa Meetings stattfinden. Dort werden alle anderen Entscheidungen gemeinsam getroffen.

Das Wichtigste dabei: Alle dürfen im eigenen Bereich machen, was sie wollen. Nur wenn eine Entscheidung offensichtlich der Firma schadet, wird sie abgeschmettert. Entscheidungen sind dabei nicht im engeren Sinne demokratisch. Aber definitiv auch nicht diktatorisch wie im klassischen Führungsmodell.

Holacracy sieht vor, dass Experimente grundsätzlich positiv zu bewerten sind. Und wenn etwas schiefgeht, gibt es das nächste Meeting. Das folgt einem konkreten Ablauf, wird in einer zur Holacracy gehörenden Software durchgetaktet und protokolliert. Eine der größten Fehlannahmen über unternehmerische Entscheidungen ohne Vorgesetzte ist, dass ein Modell wie Holacracy informell sei. Das Gegenteil ist richtig: Ein Unternehmen ohne Chefinnen und Chefs muss alles bis ins Detail festlegen.

Ende der Gewissheiten

Bemerkenswert an Holacracy: Mitarbeitende müssen sich selbst letztlich wie ein Unternehmen verhalten. Auch wenn die Metaphern von Revolution, Demokratisierung und anderem polit-historischen Zeug in der Arbeitswelt wuchern, hier mal nachgedacht, was die alte, nicht-holokratische Arbeitswelt mit vordemokratischen Königreichen gemeinsam hat:

→ Die Führungskraft ist vor allem zur Repräsentation nach außen da, die Königin oder der König vor allem zum Kronetragen.

→ Echte Arbeit passiert auf der Sachebene. Königin oder Chefs mischen sich nur ein, wenn es brennt.

→ Ein Job begleitet dich dein ganzes Leben lang. Wechsel sind nicht vorgesehen.

→ Der Titel ist das Sicherheitsnetz: Am Anfang arbeitest du für den Titel, später der Titel für dich.

Und jetzt alles neu, alles egalitär: Die neue Holacracy-Arbeitswelt ähnelt dem postrevolutionären kapitalistischen Staat:

→ Es gibt eine Verfassung (ja, so heißt es auch bei der Holacracy) mit gleichen Regeln für alle.

→ Alle können alles werden. Theoretisch.

→ Im Idealfall findet man eine Rolle, die am besten zu den eigenen Talenten passt.

→ Wenn du keine Aufgabe hast, bist du aber auch ein Niemand. Denn du bist, was du tust, nicht was auf deiner Visitenkarte (oder deinem Adelswappen) steht.

→ Es entscheidet bestenfalls kein Zirkel aus Privilegierten, sondern die Gruppe mit den besten Ideen.

In der neuen Arbeitswelt soll es endlich, endlich, endlich wirklich um Initiative und Machen gehen. Das hat eine auf den ersten Blick widersprüchliche Konsequenz: Es ist die Einführung von Kapitalismus in Unternehmen. Sind die nicht der Inbegriff von Kapitalismus? Schon! Aber im Inneren gelten oft weiterhin die alten Regeln von Klüngelei, Vetternwirtschaft und Denken in Privilegien und Titeln. Das Schöne am unternehmensinternen Kapitalismus ist außerdem: Monopole sind nicht zu befürchten. Was singt König von Deutschland Rio Reiser dazu?

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