Leadership & Karriere Lesley Anne Bleakney: „Die einzige Entspannung für mich ist Schlafen“

Lesley Anne Bleakney: „Die einzige Entspannung für mich ist Schlafen“

Mensch mit Verantwortung: Die Chief People Officer der Avantgarde Group Lesley Anne Bleakney will die verstaubte Personalverwaltungsmaschine begraben. Wie stellt sie das an?

Wie viel Mensch steckt eigentlich in „Human Resources?“ Eine Frage, die die Unternehmenswelt spätestens seit 2004 genauer untersucht. Denn in dem Jahr wurde das Wort in seiner deutschen Übersetzung „Humankapital“ von Sprachwissenschaftler:innen zum Unwort des Jahres gekürt.

Die Kritik damals wie auch heute noch: Mit der Bezeichnung Human Resources aka Humankapital gehe einher, dass die Mitarbeitenden eines Unternehmens nicht als menschliche Individuen, sondern vielmehr als formbare und beliebig einsetzbare Masse gesehen und behandelt werden.

Seitdem hat sich die Wirtschaft schuldpflichtig gewandelt: Stellenausschreibungen preisen Entwicklung und „menschenzentriertes Arbeiten“ an, Fördern kommt vor Fordern – und eine ganze Generation an Ratgeberautor:innen hat sich goldene Nasen damit verdient, immer neue Begriffe in die Welt zu setzen, die das Zusammenspiel von „Mensch und Arbeit“ neu beschreiben: Wer einmal in das düstere Loch der Purpose-Prediger:innen und „Find Your Why“-Ausmalbuch-Verkäufer:innen hinabgestarrt hat, wendet sich mit Grausen ab.

Doch vielleicht ist jetzt eine gute Gelegenheit, über eben dieses Zusammenspiel von Mensch und Unternehmen mal wieder neu nachzudenken. Derzeit befindet sich die Wirtschaft bekanntlich in einer Phase maximaler Unsicherheit: In der Techbranche fallen gut dotierte Jobs weg, die gesamte Digitalwirtschaft muss sich bescheiden schrumpfen.

Riesenplayer wie Amazon und Meta streichen im großen Stil Stellen, bei Twitter bekommt man gerade viel unfreiwillig Amüsantes mit, selbst Börsengewinner Apple bleibt beim Hiring vorsichtig. Im Sommer bereits gab es größere Entlassungswellen in der Startup-Szene. Also: Wie geht man in diesen Zeiten mit der Ressource Mensch um?

Mehr als die klassische Personalchefin

Die Münchner Agentur Avantgarde Group hat dazu im Juni 2022 Lesley Anne Bleakney eingestellt. Als Chief People Officer sollen bei ihr alle Fäden zusammenlaufen, was natürlich erst mal nach klassischer Personalchefin klingt, andererseits aber auch viele der Trends abdecken soll, die in den letzten Jahren neu entstanden sind.

Mit dem neuen Jobtitel geht Bleakney auch das Rebranding ihres Fachbereichs an, der sich jetzt „Talent and Culture“ nennt. Sie will die bestehende Struktur, die einst klassisch-administrativ ausgerichtet war, anpassen und für alle im Unternehmen öffnen. Weltweit arbeiten 650 Menschen an verschiedenen Standorten für die Avantgarde Group.

Sicherlich keine leichte Aufgabe, die damit erledigt ist, dass man von heute auf morgen alle Junior-Account-Manager als „Talents“ bezeichnet und Gutscheine für E-Bikes verschenkt.

Interessant: Bleakney ist ein Kulturmensch. Sie hat in Witten/Herdecke Philosophie und Kulturreflexionen im Bachelor studiert, den Master Philosophie und Ökonomie mitgegründet, später in Deutschland und den USA promoviert. Danach ging sie in die Modebranche: Sie stieg bei Bench ein, anschließend war sie viele Jahre in HR-Positionen bei Lacoste tätig.

Frau Bleakney, Sie sind Chief People Officer in einem großen Unternehmen. Wie stellen Sie dabei sicher, dass Sie selber ein guter Leader sind?

Ich musste mich damals aus einer rein passiven, administrativen, reaktiven Rolle in eine tatsächliche Führungskraft, die proaktiv Dinge adressiert und aus Intention und Vision heraus agiert, entwickeln. Das Thema Leadership ist dann erst dazugekommen, weil ich mich damit sukzessive mehr und mehr beschäftigt und eine Coaching-Ausbildung gemacht habe. Ich wollte verstehen: Was macht gute Führungskräfte aus?

Und?

Ich hatte immer Vorbilder, die sehr männlich geprägt waren, sehr klassisch im Sinne von managementgetrieben. Ich will hingegen das Geistige, das Schöne mit dem Praktischen und dem Machen verbinden. Am Anfang war ich keine gute Führungskraft. Ich dachte, es würde mir leichter fallen, aber es war total schwierig.

Woran haben Sie festgemacht, dass Sie keine gute Führungskraft waren?

Ich hatte das Gefühl, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Ich bin zu sehr um mich selbst gekreist. Ich habe mich wahnsinnig schwer damit getan, Dinge abzugeben, andere Meinungen zuzulassen. Ich hatte immer das Gefühl, ich muss alles steuern. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich eine inspirierende Führungskraft bin.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe versucht, mich selbst aus der Misere zu ziehen. Ich habe damals ein Leadership-Training gemacht, viel gelesen und mir viel angeschaut. Das war ein Prozess. Heute bin ich einfach wahnsinnig froh, dass ich diesen durchgemacht habe.

Was ist denn die wichtigste Fähigkeit, die eine gute Führungskraft heute braucht?

„Zur Freiheit ermutigen“ ist mein Mantra. Ich glaube an die Dynamik von Enabling und Ownership. Also Verantwortung zu übernehmen für etwas. Gleichzeitig brauchst du auch jemanden, der die Grätsche zwischen Mitarbeiter und Leader hinbekommt. Das heißt, Führungskräfte müssen Verantwortung übertragen und auch freiheitlich geben können. Und dabei smart managen. Diese Grätsche gut zu halten und dabei individuell auf die Mitarbeiter einzugehen ist arbeitsintensiv. Das braucht Geduld, Feingefühl und eine wahnsinnige Befähigung. Das ist teilweise schon Erziehungsarbeit.

Individuell auf jeden Mitarbeiter eingehen gestaltet sich bei 650 Mitarbeitenden sicher nicht so leicht.

Grundsätzlich denke ich, dass jeder Mensch für sich selbst eine Verantwortung hat. Ich helfe dabei, sie auf einer bestimmten Etappe in einem bestimmten Bereich zu begleiten. Dafür übernehme ich Verantwortung. Es ist mir ein wahnsinnig persönliches Anliegen, alle zu kennen.

Wie stellen Sie das an?

Ich habe konsequent und systematisch die Standorte der Avantgarde besucht, Schanghai und Dubai stehen noch aus. Ich weiß zum Beispiel genau, wie das Office in London aussieht oder wer in Dresden sitzt. So ist es keine abstrakte Zahl mehr für mich, sondern es sind tatsächlich Menschen, Gesichter, Geschichten. Das relativiert die sehr groß klingende Zahl.

Aber wie wollen Sie garantieren, dass jeder von ihnen individuell gefördert wird?

Grundsätzlich denke ich, mein Job ist es gar nicht mal, alle Talente zu entdecken. Ich gebe den Nährboden. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich der Talentscout bin. Ich muss die Leute befähigen, die viel näher dran sind. Das ist ein Recruitingthema. Ich sehe mich da eher in der Infrastruktur. Ich baue den Rahmen, und das Framing muss wachsen.

Was verstehen Sie denn unter dem Begriff Talent?

Talent ist immer relativ. Für mich ist ein Talent jemand, der oder die eine maximale Begeisterungsfähigkeit hat, gepaart mit einer enormen Kundenorientiertheit, denn wir sind Dienstleister. Also brauchen wir jemanden, der einen Sinn für Community und gemeinschaftliches Arbeiten hat.

„Für mich ist ein Talent jemand, der oder die eine maximale Begeisterungsfähigkeit hat.“

Und wie definieren Sie Erfolg?

Für mein Mandat ist Erfolg da, wo Vertrauen und Verbindlichkeit sichtbar werden. Wenn ich das Gefühl habe, von meinen Kollegen ein kritisches Feedback zu bekommen, dann ist das für mich ein Erfolgsindikator. Dann weiß ich nämlich, es ist genug Vertrauen da, dass man Kritik aussprechen kann. Ich muss auch immer kurz schlucken, wenn ich hartes Feedback bekomme, und nehme es mir richtig zu Herzen. Gleichzeitig ist genau das für mich der Erfolg, weil ich es dann auf inhaltlicher und zwischenmenschlicher Ebene geschafft habe, die Menschen zu berühren.

Die Avantgarde Group verspricht auf ihrer Homepage flache Hierarchien. Sollte das für ein Unternehmen des Jahres 2022 nicht selbstverständlich sein?

Ich finde Augenhöhe essenziell. Sie impliziert, dass man sich als Mensch respektiert und in die Augen schauen kann. Das mache ich, egal mit wem. Aber das heißt nicht, dass es keine Hierarchien gibt. Ich glaube, wir trauen es uns nur oftmals nicht, weil wir konfliktscheu sind. Ich bin eine große Verfechterin des Prinzips „Radical Candor“.

Der Idee also, dass absolute Klarheit und Transparenz in der Kommunikation und im Umgang zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden unumgänglich sind.

Ja, ein Konzept der Sachbuchautorin Kim Scott. Sie sagt: Challenge and Care. Man braucht eine klare Aufrichtigkeit, aber trotzdem eine empathische Haltung zu seinem Gegenüber. Ich tue niemandem einen Gefallen, wenn ich unklar, aber freundlich bin. Ich tue auch niemandem einen Gefallen, wenn ich unfreundlich, aber klar bin. Die Kombination aus Aufrichtigkeit, Klarheit und Augenhöhe ist die ideale Umgangsform, um in Lebenssituationen, egal ob privat oder beruflich, erfolgreich zu navigieren.

Die meisten Führungspositionen in der Wirtschaft sind immer noch von Männern besetzt. Wie nehmen Sie das in Ihrem daily Business wahr?

Ich habe mich ehrlicherweise nie so intensiv mit dem Thema beschäftigt. Interessanterweise, weil das Gender-Thema allein durch die Art und Weise, wie ich aufgewachsen bin, nie stark verankert war.

Wie sind Sie aufgewachsen?

Ich komme vom Land, Raum Frankfurt. Mein Vater ist Amerikaner, war freischaffender Künstler, hatte immer lange Haare und war zu Hause. Meine Mutter war diejenige, die das Geld nach Hause gebracht hat und immer viel gereist ist. Das heißt, ich bin schon von vornherein mit anderen Konventionen groß geworden.

Und das hat Sie geprägt.

Ich bin damit aufgewachsen, immer ein starkes Wertegerüst zu haben. Freiheit, aber mit Werterahmen. Auch im Beruflichen habe ich immer versucht, einen gestalterischen Ansatz zu haben, indem ich Rollen neu definiere, weil ich nicht wusste, wie die anders hätten belegt werden sollen. Ich habe es so gemacht, wie ich es für richtig empfunden habe, und versucht, Grenzen zu sprengen. Das war nicht immer einfach, gerade in jüngeren Jahren. Ich sehe mich immer als ganzheitliche Person und weniger rein als Frau. Mein Fokus ist, zu schauen, wo ich direkten Einfluss nehmen und Mentorin sein kann, ein Vorbild, das ich so in der Form nicht hatte.

„Freiheit, aber mit Werterahmen.“

Wie stehen Sie dann zu der Kategorisierung „Female Leadership“?

Ich glaube an Leadership per se. In einem sozialen Geflecht gibt es immer Bewegungen, weil es viele gesellschaftliche Themen gibt, die aufgearbeitet werden müssen. Es gibt viele Unterdrückungsthemen, die vorher keinen Platz gefunden haben und dann eine Dynamik entwickeln. Sie werden medial aufgegriffen und bekommen plötzlich eine Bühne. Das ist wichtig und richtig. Dabei darf aber nie aus dem Fokus rücken, dass man auch als Community Gemeinschaftlichkeit denken muss, sodass keine Ausgrenzung stattfindet. Wir brauchen einfach gut aufgeklärte junge Menschen, egal ob Mann oder Frau. Das ist wichtig und richtig. Es darf nur nicht zu Spaltung führen.

Wie sorgen Sie dann in Ihrer Rolle dafür?

Ich glaube daran, authentisch zu sein. Das ist die Superpower. Gender ist ein gesellschaftliches, wirtschaftliches, soziales Thema und Konstrukt. Es ist wichtig, diese Strukturen aufzuzeichnen. Aber im Tagesgeschäft muss man versuchen, authentisch zu sein. Meine Verantwortung ist es, das Thema Gender authentisch in Organisationsstrukturen zu implementieren.

Was machen Sie, wenn Sie gerade nicht für die Avantgarde Group arbeiten?

Ich bin stolze Mama von einem fünfjährigen Sohn, den ich nur eingeschränkt sehe. Deswegen versuche ich, maximal viel Zeit mit ihm zu verbringen. Wir sind begeisterte Schatzsucher. Wir lieben jede Art von Flohmarkt und Museum. Ansonsten reise ich wahnsinnig gerne.

Und wie schalten Sie mal ab?

Das tue ich ehrlicherweise superwenig. Entspannung steht nicht auf meiner Agenda. Ich bin actionorientiert. Die einzige Entspannung für mich ist Schlafen.

„Entspannung steht nicht auf meiner Agenda.“

Ketzerisch gefragt: Sollten Sie nicht in Ihrer Position eher eine vorbildliche Work-Life-Balance vorleben?

Es ist mir bewusst, dass das nicht optimal ist. Ich bin tatsächlich ausgebildete Yogalehrerin und habe schon Achtsamkeitskurse besucht, habe mich damit also intensiv auseinandergesetzt. Aber mein innerer Motor ist einfach immer in Betrieb.

Was würden Sie machen, wenn Sie Ihren Job von heute auf morgen aufgeben müssten?

Das kann ich genau sagen: Ich würde mich selbstständig machen, mir lauter Container mieten. Dann die Welt bereisen, viele wunderschöne Sachen kaufen und sie alle in den Containern lagern. Und mir erst dann überlegen, was ich damit mache.

Klingt nicht nach langfristiger Absicherung.

Die Alternative wäre, Archäologie zu studieren und irgendwo Mumien auszugraben. Aber das wird nicht stattfinden. Ich wäre zu ungeduldig, um noch mal fünf Jahre zu studieren. Aber diese Idee, in abgelegene Gegenden zu fahren und diese nach alten, schönen Objekten zu durchforsten, das ist eine Idee, die ich irgendwann mal umsetzen werde. Und wenn es dann so weit ist, ist es ja vielleicht lukrativ genug, um eine Fernsehshow draus zu machen.

Da ist das Ding! Neben unserer Watchlist findet ihr noch diese Themen: Wie die Chief People Officer der Avantgarde Group, Lesley Anne Bleakney, den Bereich Human Resources neu denkt, wie das Vorreiterland Südkorea das Metaverse für sich entdeckt hat, was die Comedy-Impro-Serie „Die Discounter“ so erfolgreich macht und warum Rocker Ville Valo jetzt Pizza verkauft. Viel Spaß beim Lesen! Hier gibt es das Magazin zum Bestellen.

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