Innovation & Future Up in smoke?

Up in smoke?

„Gebt das Hanf frei!“. So röhrte es der verstorbene Grünenpolitiker Christian Ströbele einmal bei einer Demo über den Platz. Heute gilt die Substanz als eine der am stärksten wachsenden Branchen weltweit – und doch wird das Marktpotenzial bei uns unterschätzt. Denn während Länder wie Kanada Vorreiter sind und Israel als globales Innovationszentrum für Cannabistherapien gilt, stehen wir vor Problemchen. Der neuen Bundesregierung kommt daher die Verantwortung zu, den Zugang zu Medizinal-Cannabis im Sinne einer patientenorientierten Politik zu bewahren. Isses so?

Gastbeitrag von Sascha Mielcarek, CEO Canify AG

Denn wer bei uns an Cannabis denkt, hat meist die Debatte über die Legalisierung im Freizeitbereich im Kopf. Doch das eigentliche Potenzial liegt im medizinischen Sektor. Bereits heute gibt es zehntausende Patienten, die Cannabis zur Behandlung von chronischen Schmerzen, Schlafstörungen oder neurologischen Erkrankungen nutzen. Zudem kann man davon ausgehen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Freizeitnutzer eigentlich eine therapeutische Motivation für ihren Konsum hat – ein Aspekt, der in der politischen Diskussion arg kurz kommt. Wer kennt schließlich nicht jemanden, der chronische Schmerzen oder Schlafprobleme hat?
Die Zahl der medizinischen Cannabispatienten in Deutschland wird auf etwa 200.000 geschätzt. Die echte Zahl dürfte deutlich höher liegen, bis 2026 wird eine Marktdurchdringung von 1,5 bis 2 Prozent der deutschen Bevölkerung erwartet – das entspricht bei 84 Millionen Einwohnern 1,3 bis 1,7 Millionen Patienten. Hier gibt es also in den kommenden Jahren ein enormes Wachstum – sofern der Zugang weiter verbessert und Versorgungsstrukturen nachhaltig ausgebaut werden.
Branchenkenner schätzen das wirtschaftliche Potenzial im Bereich von medizinischem Cannabis ähnlich hoch ein: Der deutsche Markt für medizinisches Cannabis wird derzeit auf über 500 Millionen Euro geschätzt. In 2025 könnte das Marktvolumen womöglich auf bis zu vier Milliarden Euro steigen. Auch bei uns zeigen sich diese wirtschaftlichen Entwicklungen. 2025 rechnen wir mit einem Umsatz von 21 Millionen Euro.

Patientensicherheit durch Verantwortung

Der medizinische Nutzen von einer Therapie mit Cannabinoiden ist wohl unbestritten. Auch wenn es sich dabei nicht um ein Wundermittel handelt, kann medizinisches Cannabis bei vielen Symptomen Linderung bringen und die Lebensqualität erhöhen – und das bei vergleichsweise geringen Nebenwirkungen. Doch trotz der wachsenden Akzeptanz fehlt es weiterhin an klinischen Studien, die noch mehr Sicherheit für die Anwendung im medizinischen Bereich bringen würden. Wo bleiben jene denn? Hier entscheidend: Eine medizinische Cannabistherapie muss auf einer fundierten Diagnose basieren. Punkt. Und die Therapieentscheidung muss in ärztlicher Hand liegen und sich an medizinischen Standards orientieren. Denn je nach Indikation kann eine digitale Verschreibung eine sinnvolle Ergänzung sein, jedoch muss bei komplexeren Fällen oder individuell zustimmungsbedürftigen Therapien ein direkter Arztkontakt klappen. Die rein digitale Verschreibung ohne ärztliche Begleitung birgt das Risiko, den Therapieerfolg zu gefährden und so das Vertrauen in die Therapie zu untergraben.

Eine erfolgreiche Cannabistherapie erfordert auch die „richtige“, aka die passende Dosierung. Denn die variiert je nach Patient und Indikation. Die Teillegalisierung und die Einführung des E-Rezepts erleichterten den Zugang und bieten Patienten via Telemedizin eine effiziente Versorgung. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die Rezepte nicht vollständig automatisiert werden.

Hybridmodelle als Schlüssel

Die ärztliche Versorgung in Deutschland steht vor Herausforderungen. Bis 2035 könnten laut Prognosen bis zu 11.000 Hausarztstellen unbesetzt bleiben. Gerade Patienten mit chronischen Erkrankungen benötigen die kontinuierliche ärztliche Betreuung – sowohl für die Diagnose als auch für die langfristige Therapie und deren Anpassung. Einenachhaltiger Lösungsansatz liegt in den hybriden Versorgungsmodellen, die Telemedizin mit Vor-Ort-Behandlungen kombinieren. Denn Telemedizin ermöglicht und erleichtert den Zugang zu spezialisierten Fachärzten, insbesondere in Regionen mit Versorgungsengpässen. Wichtig dabei ist jedoch, dass auch persönliche Termine möglich bleiben, um Diagnosen zu stellen, Therapiepläne anzupassen und die Patienten individuell zu begleiten. Apotheken spielen zudem eine zentrale Rolle als verlässliche Partner, um eine sichere Abgabe und die  fachkundige Beratung zu gewährleisten. Wir setzen auf genau dieses Modell. Eine strukturierte, ärztlich begleitete Patientenversorgung, die die Vorteile der Telemedizin nutzt, aber gleichzeitig auch auf eine persönliche Betreuung und die medizinische Verantwortung setzt. Patienten erhalten nicht nur eine fundierte Therapieempfehlung, sondern eine durchgehende medizinische Begleitung, die den individuellen Krankheitsverlauf berücksichtigt.

Innovationen notwendig


Ärztliche Vorbehalte gegenüber der Cannabistherapie finden sich auch in dem Grund, dass typische pharmazeutische Darreichungsformen noch relativ selten sind. Die Inhalation von getrockneten Blüten stößt bei Ärzten und bei auf Skepsis. Daneben gibt es auch Extrakte auf Cannabinoidbasis, die aber nicht bei allen Indikationen den gewünschten Effekt bringen. Bedeutet: Erfindungen wären prima, um die Akzeptanz voranzutreiben.

Wir werkeln in einem Joint Venture mit der Firma Alveon an einem CE-zertifizierten Inhalationsgerät zur Verabreichung von Extrakten.

Wenn sich die frische Bundesregierung mit der Gesetzgebung zu Cannabis befasst, muss der medizinische Bereich dringend separat betrachtet werden. Es braucht ein Modell, dass sich an medizinischen Standards orientiert und nicht von kurzfristigen politischen oder wirtschaftlichen Interessen getrieben wird.

Infokasten

Sascha Mielcarek verfügt über mehr als 20 Jahre Führungserfahrung in der internationalen Gesundheitsbranche. Bis vor kurzem war er Chairman der European Medical Cannabis Association. Seit seiner Übernahme als CEO von Canify 2023 entwickelte er die Firma innerhalb eines Jahres zu einem profitablen Cannabis-Unternehmen.

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