Leadership & Karriere Filmemacherin Anna Winger: „Ich bin eine Art Zirkusdirektorin“

Filmemacherin Anna Winger: „Ich bin eine Art Zirkusdirektorin“

Von Jonas Bickelmann und Katharina Boecker

Eine Geschichte von Flucht und Zusammenhalt, von Mut in grausamen Zeiten. Mit „Transatlantic“ hat Anna Winger mit ihrer eigenen Produktionsfirma Airlift ihr erstes großes Projekt als Exklusivproduzentin für Netflix umgesetzt. Winger stammt aus den USA und lebt heute in Berlin. Wir treffen sie in ihrem Büro in Kreuzberg, einem lichtdurchfluteten Anbau im Hinterhof.

Ihre früheren Projekte waren schon eher typische Innovationen des Streaming-Zeitalters. In „Unorthodox“ erzählte sie die Geschichte einer Frau aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, die in Berlin in ein ganz anderes Leben eintaucht. Mit „Deutschland 83“ brachte sie den deutschen Ost-West-Konflikt der ganzen Welt nahe. Hierzulande lief die Serie eher mau, dafür machte sie im Ausland Furore. Vielleicht braucht es dafür eine wie Anna Winger: Eine, die Deutschland kennt – und die Welt. Die aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit all ihren Brüchen Entertainment für ein globales Streamingpublikum zu machen weiß.

„Transatlantic“ ist am 7. April auf Netflix gestartet. Der Cast ist international: Moritz Bleibtreu neben Gillian Jacobs („Community“), Corey Stoll („House of Cards“) neben Deleila Piasko, die am Wiener Burgtheater spielt. Ein Gespräch über Berlin, das Working-Mom-Dasein und Dreharbeiten in Frankreich, während denen Krieg in Europa wieder Realität wurde.

Frau Winger, Sie sind Filmemacherin, Fotografin, Journalistin, Businessfrau. Wie betrachten Sie sich selbst in erster Linie?

Ich bin zuallererst Autorin. Das Schreiben ist die Basis für alles, was ich tue.

Wann haben Sie begonnen, Drehbücher zu schreiben?

Ich habe erst in meinen Vierzigern über das Drehbuchschreiben nachgedacht. Das war nicht geplant. Ich habe als Fotografin, auch einer meiner Jobs, viel in der Werbung gearbeitet. Ich wurde unter anderem angeheuert, um Mode- und Werbefotografien zu machen. Dann gab es eine Phase in meinem Leben, in der ich die Zeit größtenteils mit meinen Kindern verbracht habe. Damals habe ich angefangen, ernsthaft zu schreiben. Meine Vierziger waren ein erstaunliches Abenteuer, weil sich alles verband, was ich vorher gemacht habe: Fotografie, Schreiben, Werbung, Geschichtenerzählen. Du schreibst die Serie, du drehst die Serie, du castest. Jeder einzelne Teil ist wichtig. Und dann: Marketing.

Was machen Sie gegen Schreibblockaden? Uns hilft ja meist aufstehen und herumlaufen.

Ja, oder sich mit jemandem unterhalten. Da ich auch einen Roman geschrieben habe, weiß ich, wie es ist, immer alleine zu arbeiten. Und ich habe keinen zweiten geschrieben. Wobei, letztens hatte ich eine Idee für einen Roman, und ich bin auf komische Art motiviert, den nebenbei zu schreiben. Aber es ist nur schreiben, schreiben, schreiben, Anfang, Mittelteil und Ende. Beim Drehbuchschreiben ist es anders, da kommt nach dem Schreiben alles andere.

Und es gibt jemanden, die oder der auf Ergebnisse wartet.

Das kollektive Momentum, das ist alles. Deadlines sind alles. Deadlines sind deine Freunde. Nichts kam je ohne Deadline zum Abschluss.

„Deadlines sind alles. Deadlines sind deine Freunde.“

Anna Winger

Da können wir immerhin aus eigener Erfahrung zustimmen.

Journalisten geben durch die Bank gute Drehbuchautoren ab, da sie wissen, wie man sich Notizen macht. Außerdem hilft es, wenn man schon eine Team-Arbeitsweise wie aus Redaktionen kennt. Denn auch beim Produzieren von Filmen oder Serien gibt es viele gemeinsame Entscheidungen. So eine Serie ist wie ein Lebewesen, das atmet.

Sie schreiben nicht nur, sondern sind mittlerweile auch Showrunnerin.

In Deutschland spricht man immer von Showrunner, viele wissen aber gar nicht, was das ist. Es ist ein bisschen so, als ob man in einem Zirkus für drei Manegen gleichzeitig verantwortlich ist. Ich bin eine Art Zirkusdirektorin.

Sie hatten auch eine eigene Radioshow für den Sender NPR: „Berlin Stories“. Was haben die Zuhörenden dort über Berlin gelernt?

Die Geschichten wurden von Autoren auf der ganzen Welt geschrieben, ich habe sie produziert. Die Autoren haben von ihren Erfahrungen in Berlin erzählt. Und wie die Stadt Teil von ihren persönlichen Geschichten war. Mein Vater ist Professor und Anthropologe. Er schrieb zum Beispiel eine Geschichte, in der es darum ging, welchen Menschen die Straßennamen in Berlin gewidmet sind. Er schrieb über die Varian-Fry-Straße am Potsdamer Platz. Die Geschichte brachte mich auf die Idee für „Transatlantic“. Mein erstes Büro befand sich im Flughafengebäude Tempelhof. Als ich damals die Radiosendung gemacht habe, habe ich mal einen Candy-Bomber-Piloten interviewt.

In Deutschland nannte man die Flugzeuge der Alliierten zur Zeit der Berliner Luftbrücke umgangssprachlich Rosinenbomber.

Ja, und es ist ein schöner Ort für ein Büro – und gleichzeitig dramatisch. Deshalb habe ich meine Firma Airlift genannt. 2015 wurden die Hangars unter meinem Büro für die Geflüchteten zu Unterkünften. Es war der erste Ort, an dem sie Kleidung und Essen bekamen. So kam mir der Gedanke, „Transatlantic“ zu machen. Ich habe mit meiner damals zwölfjährigen Tochter viel darüber gesprochen, dass Menschen wie wir aus Deutschland mal fliehen mussten, und jetzt kamen Geflüchtete hierher, nach Deutschland.

Kurz zur erwähnten Person: Varian Fry leitete in Frankreich das Emergency Rescue Committee und half deutschen Geflüchteten, Visa für die USA zu bekommen.

Davon hat mir mein Vater schon 2012 erzählt. Nachdem ich die Serien „Deutschland 86“ und „Unorthodox“ gemacht hatte, habe ich angefangen, an der Idee für dieses Projekt zu arbeiten. Dann kam ein Roman heraus, der von dieser Geschichte erzählt, „The Flight Portfolio“, und ich habe mir die Rechte gesichert. Am 24. Februar 2022 griff Putin die Ukraine an.

Hatten Sie zu dem Zeitpunkt schon mit den Dreharbeiten für „Transatlantic“ begonnen?

Wir haben am 21. Februar 2022 mit den Dreharbeiten für „Transatlantic“ begonnen. Wir haben gerade in den Bergen gedreht. In den Pausen haben wir auf unsere Handys geschaut, haben von Menschen gelesen, die versuchten, aus der Ukraine nach Polen zu kommen. Sie standen 24 Stunden lang im Stau. Es fühlte sich unheimlich an. Und intensiv. Die Frau unseres Kameramanns ist Ukrainerin. Plötzlich ging es darum, wie wir den Menschen Jobs besorgen und sie da rausbringen können.

Wir haben im 20. Jahrhundert so viele Gräueltaten, Kriege erlebt. Haben Sie die Hoffnung, dass wir aus der Geschichte gelernt haben?

Natürlich. Wir dürfen die Geschichte nicht vergessen. Schlimm ist, dass die Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, jetzt ausstirbt. Es wird niemanden mehr geben, der sich daran erinnert. Es wird an uns anderen liegen, diese Geschichten immer wieder zu erzählen. Das gilt nicht nur für den Zweiten Weltkrieg, auch für die amerikanische Sklaverei oder die Apartheid in Südafrika. Es gibt aus diesen schrecklichen Zeiten auch Geschichten von mutigen Menschen. Von Menschen, die zu großer Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit fähig waren. Sie sollten uns inspirieren.

„Wir dürfen die Geschichte nicht vergessen.“

Anna Winger

So wie die Figuren in „Transatlantic“?

Diese Show zelebriert genau das. Für mich gibt es nichts Bewegenderes als eine Person, die es schafft, Menschlichkeit in Gefahrensituationen zu zeigen, vor denen andere zurückschrecken würden. Es gibt so viele davon.

Sie haben jüdische Wurzeln. Mussten Ihre Vorfahren selbst fliehen?

Ich stamme nicht aus einer deutschen, sondern aus einer osteuropäischen jüdischen Familie. Die Familie meiner Mutter lebte aber schon länger in England, die meines Vaters in den USA. Meine Eltern haben sich in Nigeria kennengelernt, wo sie beide arbeiteten, als Anthropologen. Ich bin buchstäblich auf vier Kontinenten aufgewachsen, weil meine Eltern beruflich viel reisten. Ich habe also keinen ganz unmittelbaren Bezug zum Zweiten Weltkrieg in meiner Familie. Allerdings: Ich lebe mittlerweile seit 20 Jahren in Berlin und habe meine eigene Erfahrung mit der Geschichte dieser Stadt gemacht, mit ihrer Willkommenshaltung gegenüber Einwanderern.

„Ich bin buchstäblich auf vier Kontinenten aufgewachsen.“

Anna Winger

Was finden Sie so besonders an Berlin?

Ich finde die Kluft zwischen Ost und West interessant. Als Ausländerin habe ich mich immer für die gegenseitige Befruchtung der beiden Seiten interessiert. Selbst einige Deutsche leben nicht in dem Staat, in dem sie aufgewachsen sind. Das macht es sehr einfach, hier Einwanderin zu sein. Viele Ausländer haben das Gefühl, dass sie Teil des Wiederaufbaus der Stadt waren. Man muss nicht unbedingt den Dialekt sprechen, um ein Einheimischer zu sein. Anders als in München vielleicht.

Sie verbrachten Ihre Kindheit in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts.

Da gibt es eine persönliche Verbindung zu „Transatlantic“, die eher zufällig ist, nämlich, dass meine Eltern zwei der Figuren der Geschichte kannten: Albert Hirschman und Lisa Fittko hießen sie. Es ist aber eine Geschichte, die sich 1940 ereignete, und meine Eltern haben die beiden erst in den 80er-Jahren kennengelernt. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es viele Menschen, die im Zweiten Weltkrieg aus Europa nach Amerika gekommen waren.

Was hat das für die USA bedeutet?

All die Menschen, die Europa verließen, veränderten die amerikanische Kulturgeschichte und die akademische Welt. Diese beiden Bereiche wurden von den Menschen, die Varian Fry in die USA holte, sehr geprägt.

Heute sind Sie als Kulturschaffende bekannt. 2021 sind Sie einen Overall-Deal mit Netflix eingegangen. Wieso?

Für einen bestimmten Zeitraum werden wir nur für Netflix Inhalte produzieren. Zeitlich mit offenem Ende. Für mich ergibt das total Sinn. Die Priorität ist das Schaffen selbst. Es geht darum, das Publikum zu erreichen. Allerdings gilt trotzdem: Wir müssen erst mal gute Ideen haben und für unsere Produktionen grünes Licht von Netflix bekommen.

„Die Priorität ist das Schaffen selbst.“

Anna Winger

Haben die Streamingdienste den Kreativen mehr Freiheit gebracht?

Ja, total. Das Beste ist der Zugang zum Publikum. Das gefällt mir an den Streamingplattformen: Es ist so einfach, eine Serie in der ganzen Welt zu verbreiten. „Deutschland 83“ lief so bald auf 150 Sendern auf der ganzen Welt. Oder „Unorthodox“. Das ist eine Nischenstory auf Jiddisch, was nirgendwo Landessprache ist. Aber diese Gesamtheit eines Nischenpublikums aus der ganzen Welt, die ist trotzdem richtig groß.

Um dort hinzukommen, wo Sie jetzt sind: Was raten Sie jungen Kreativen, die mal exklusiv für Netflix Stoffe entwickeln wollen?

Drei Sachen. Erstens: Du musst dir treu bleiben. Die Geschichten erzählen, die du erzählen willst. Es ist nicht wie Malen nach Zahlen. Was andere wollen, kannst du nicht voraussagen. Es muss aus dir selbst kommen. Zweitens: Nimm jeden Job an, bei dem du sehen kannst, wie man etwas macht. Etwas, wo dir jemand sagt: Komm mit mir, und ich zeige dir mein Handwerk. Wir sind keine Professorinnen des theoretischen Fernsehens. Drittens, ein wenig ungewöhnlich: Hab keine Angst, dich mit Geld zu befassen. Hier in Deutschland ist es eigenartig: Mit Geld umzugehen wird als etwas betrachtet, das völlig verschieden vom Künstlerischen ist. Das ist doch einfach Wahnsinn. Wenn du Angst hast, mit Geld umzugehen, werden es andere für dich tun. Und du verlierst die Macht über dein Werk.

Traurig, dass vor allem hierzulande aus Geld oft ein Mysterium gemacht wird. Reden wir nicht darüber …

Ich liebe es, über Geld zu reden! Über das Budget. Das macht mir komischerweise Spaß. Meine Partnerin in der Firma ist meine frühere Agentin. Als Frauen fühlen wir uns sehr selbstbestimmt, wenn wir uns selbst ums Geld kümmern. Denn Deutschland ist ziemlich rückwärtsgewandt, wenn es ums Geschäftliche geht. Sehr männlich dominiert. Nicht nur in der Filmlandschaft. Wir sind stolz darauf, dass wir eine frauengeführte und vom Künstlerischen angetriebene Firma sind. Du hast eine Verpflichtung als Künstlerin, auch die Businessseite deiner Arbeit zu verstehen. Dass jede und jeder im Team die verschiedenen Zahnrädchen unserer Arbeit versteht, das ist mir sehr wichtig.

„Deutschland ist ziemlich rückwärtsgewandt, wenn es ums Geschäftliche geht. Sehr männlich dominiert. Nicht nur in der Filmlandschaft.“

Anna Winger

Empowerment durch Wissen.

Alle haben immer Angst vor allem Möglichen. Ich auch. Der Weg, die Angst zu überwinden, ist zu lernen, wie Dinge funktionieren. Wissen gibt dir das Gefühl, dass du Lösungen finden kannst. Wir hatten eine Million Probleme beim Dreh. Alle haben Covid bekommen. So oft begannen Tage, und wir fragten uns: Wer ist überhaupt gesund? Welche Sets sind bereit? Was müssen wir umschreiben, damit wir es drehen können? Einfach verrückt.

Sie sind also ein Team-Mensch.

Was halten Sie vom Homeoffice? Ich bin lieber hier im Büro. Ich mag es einfach, dass wir hier darüber reden, was wir im Fernsehen angeschaut haben. Was in den Nachrichten ist. Das Büro ist ein Forum für alle Themen bis hin zu Witzen. Ich will doch nicht zu Hause rumsitzen und mir einen Kopf darüber machen, die Spülmaschine einzuräumen. Ich bin eine Working Mom, eine Mutter mit Vollzeitjob. Zwischen Zuhause und Büro gibt es eine notwendige Trennung wie die zwischen Kirche und Staat. „Was gibt’s zu Mittag?“ – „Nein, ich arbeite. Mach dir selbst etwas zu essen!“

Beim Drehen hat man die Wahl sowieso nicht. Was ist am Set Ihre typische Aufgabe?

Ich micromanage nicht das Kostüm-Department oder andere Departments. Du musst an Menschen delegieren können, denen du vertraust. Umschreiben und Troubleshooting, das mache ich die ganze Zeit. Und Schauspieler umarmen! Ganz oft. Manchmal frage ich mich, ob ich auch so gut in diesem Job gewesen wäre, bevor ich Kinder hatte. Davor war ich nicht allzu mütterlich, sondern eher egozentrisch. Heute bin ich besser darin, mich um andere zu kümmern.

Da ist das Ding! Dieses Mal dreht sich in unserem Dossier alles um das Thema Immobilien und den Traum vom Eigenheim. Außerdem haben wir Netflix-Showrunnerin Anna Winger getroffen und die Brüder Ahmed und Mike Chaer, die deutsches Wrestling groß machen wollen. Viel Spaß beim Lesen! Hier gibt es das Magazin zum Bestellen.

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