Tech & Trends Was der Mittelstand für industrielle KI braucht: Keine Giga-Factories, sondern Anschluss an die Realität

Was der Mittelstand für industrielle KI braucht: Keine Giga-Factories, sondern Anschluss an die Realität

Biere, Jülich, Garching … und dann? Europas KI-Strategie endet im Rechenzentrum

Europas KI-Offensive ist in vollem Gange. Was politisch groß klingt, endet oft technisch brillant – und operativ wirkungslos.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen formulierte es Anfang diesen Jahres in Paris ambitioniert: „We want Europe to be one of the leading AI continents, and this means embracing a way of life where AI is everywhere.“

Der politische Wille ist klar. Die Ankündigungen sind groß. Und die Infrastruktur? Beeindruckend.

Die Deutsche Telekom etwa kündigte vor vier Wochen an, gemeinsam mit NVIDIA eine „European industrial AI infrastructure“ aufzubauen. In Biere, Sachsen-Anhalt, sollen bis 2026 rund 10.000 Hochleistungs-GPUs installiert werden – ausgelegt für industrielle Anwendungen, DSGVO-konform und souverän.

In Jülich steht bereits JUPITER, Europas erster Exascale-Supercomputer. In Garching entsteht mit Blue Lion ein KI-optimierter Nachfolger – laut NVIDIA etwa 30-mal leistungsstärker als sein Vorgänger SuperMUC-NG.

Rechenpower überall. Doch: Wer nutzt das – und wozu?

NVIDIA-CEO Jensen Huang formulierte es klar auf der GTC Europe 2025:

„In the era of AI, every manufacturer needs two factories: one for making things, and one for creating the intelligence that powers them.“

Europa baut gerade die erste. Die zweite – die operative Intelligenz – fehlt vielerorts.

Friedrich Merz brachte die strukturelle Lücke auf seine Weise auf den Punkt. In seiner Rede beim BDI-Tag der Industrie vor zwei Wochen erklärte er sinngemäß:

„Wir Deutschen können keine Software. Wir bauen lieber Giga-Factories.“

Ein Satz, der mehr offenlegt als viele Strategiepapiere. Denn genau hier liegt das Problem: Während Europa High-End-Infrastruktur baut – Exascale-Cluster, GPU-Fabriken, souveräne Clouds – fehlen oft die konkreten, operativen Fähigkeiten, um daraus anwendungsnahe, skalierbare KI-Lösungen zu machen. Besonders in industriellen Kontexten, wo der Maßstab nicht Rechenpower, sondern Praxistauglichkeit ist.


Und ja – extreme Rechenleistung wird heute vor allem für Forschung gebraucht. EuroHPC listet Anwendungen wie das Trainieren von Large Language Models, digitale Zwillinge für Herz und Gehirn, Quanten-Simulationen und Klimaforschung als Haupttreiber für Systeme wie JUPITER – nicht für den Mittelstand  

Denn während Europa Rechenzentren ausrollt, kämpft die operative Industrie ganz woanders: Die Systeme sprechen nicht miteinander. Die Abteilungen auch nicht. Und niemand versteht den Output.

Ein Mittelständler, der vorausschauende Wartung einführen will, braucht keine Exascale-Cluster. Er braucht funktionierende Sensordaten, keine neuen Systeme. Sondern neue Verbindungen. Zwischen dem, was da ist – und dem, was fehlt – und einen CXO, der keine drei Gremien überzeugen muss, um ein Projekt zu starten.

Ein Beispiel aus der Praxis: Bei Sachsenmilch Leppersdorf wurde mit Siemens’ Lösung Senseye Predictive Maintenance ein KI-Modell eingeführt, das Defekte frühzeitig erkennt. Das Ergebnis laut Siemens-Pressebericht: eine Reduktion ungeplanter Ausfälle um rund 100.000 Euro jährlich – mit Standard-Hardware und vorhandener Prozessintegration.

Auch Bitkom bestätigt den Umsetzungsstau: Nur 31  Prozent der deutschen Industrieunternehmen setzen derzeit KI ein – obwohl 67 Prozent einen klaren wirtschaftlichen Nutzen erwarten.

Was fehlt, ist nicht Compute – es ist Konnektivität. Nicht im technischen Sinn, sondern: zwischen Strategie und Realität.

Telekom-Chef Tim Höttges bezeichnete das Projekt auf LinkedIn als „ein Bekenntnis zur industriellen Stärke Europas“.

Aber dieser Aufbau beantwortet nicht die Frage, wie man KI tatsächlich in industrielle Anwendung bringt.

Wer diese Systeme nicht erklärungsbedürftig – sondern erklärend macht, wird zusehen müssen, wie sie in wenigen Jahren genauso ungenutzt verstauben wie viele „Innovationsplattformen“ zuvor.

Denn die Realität sieht anders aus:

KI-Projekte in der Industrie scheitern oft nicht an fehlender Infrastruktur, sondern am Übergang vom Piloten zum Betrieb.

Am Abstimmen mit der IT. Am Mangel an belastbaren Daten. An mangelndem Vertrauen – Betriebsrat. An falschen Erwartungshaltungen.

Ein zweites Problem: Diese Projekte zielen meist auf die Spitze – große Industriepartner, große Use Cases, große Vision.

Doch der größte Bedarf liegt bei den Kleinen.

Der deutsche Mittelstand braucht keine GPU-Farm. Er braucht verlässliche und bezahlbare Lösungen – egal ob mit oder ohne KI –, die morgen laufen – nicht 2030.

Vielleicht ist es also an der Zeit, anders zu denken.

Nicht: Wie groß bauen wir?

Sondern: Wie tief docken wir an?

Denn: Ohne Beantwortung dieser Frage haben die Giga-Factories für den Mittelstand wenig Bedeutung.

Und genau hier ist Führung gefragt.

Wenn diese Art von KI-Strategie Wirkung entfalten soll, braucht sie nicht nur Infrastruktur – sondern auch Entscheiderinnen und Entscheider in Politik und Wirtschaft, die sich trauen, aus der Strategie in die Umsetzung zu gehen.

Ach so – falls du gerade noch liest: Während wir diskutieren, greift China weiter an und möchte sich zum Weltmarktführer im Bereich Industrial AI entwickeln – mit massiven staatlichen Investitionen, Produktionsplattformen für maschinelles Sehen und dem strategischen Ziel, KI als wirtschaftliches Rückgrat der nächsten Industriephase zu etablieren. Dazu mehr in meiner nächsten Kolumne.

Peace out!