Business & Beyond Holzbein war gestern

Holzbein war gestern

Im Schatten der Medizintechnik hat sich die Prothesenindustrie zur High-Tech-Branche entwickelt. Der Krieg verleiht ihr Schub.

Die Prothesenindustrie hat in den letzten Jahren einen brutalen Stresstest erlebt – nicht im Labor, sondern im Krieg. Während in Deutschland und Europa Hightech-Schmieden an smarten Knien und feinfühligen Händen tüfteln, liefern Kliniken in der Ukraine im Akkord. Das treibt eine Branche, die jahrzehntelang im Schatten der Medizintechnik stand, plötzlich ins grelle Scheinwerferlicht – mit Milliardenmarkt, rasendem Lerntempo und echten Mensch-zu-Maschine-Durchbrüchen.

Deutschlands Schwergewicht heißt Ottobock. Der Weltmarktführer aus Duderstadt machte mikroprozessorgesteuerte Knie massenfähig; rund 100.000 Versorgungen und 25 Jahre Entwicklung haben die Technologie vorangetrieben, mit der sich im Alltag Treppen steigen Sportarten betreiben lassen. Daneben tummeln sich starke europäische Player: Aus Reykjavík liefert Össur smarte Gelenke, aus Großbritannien kommt Blatchford mit einem System, bei dem Knie und Knöchel als vernetztes Duo agieren. Frankreichs Proteor ist zum Schwergewicht bei Fuß und Knöchel-Prothesen geworden. Schwedens Integrum treibt Osseointegration voran – also im Knochen verankerte Anschlüsse für eine direktere, natürlichere Kraftübertragung. Und aus Bristol liefert Open Bionics mit dem 3D-gedruckten Hero-Arm eine leichtere, bezahlbare Hightech-Hand. Auch die zweite Reihe ist „Made in Europe“: Streifeneder (Bayern) und Uniprox (Thüringen, Bauerfeind-Gruppe) fertigen Komponenten, für die Werkbänke der Orthopädietechnik. Solche Zulieferer sind die stille Infrastruktur hinter jeder guten Versorgung.

Amputation auf dem Schlachtfeld

Spätestens der russische Angriff auf die Ukraine hat die Szene aufgerüttelt. Die Zahl der Amputationen ist schwer zu beziffern; seriöse Schätzungen reichen von 20.000 bis über 50.000 Betroffenen, einzelne Berichte sprechen sogar von rund 100.000 Amputationen. Parallel wächst die Versorgungsinfrastruktur: Das Superhumans Center in Lwiw hat seit 2023 Hunderte Patienten versorgt und baut mit Spenden seine Kapazität massiv aus – weitere Standorte folgen. Olga Rudnieva ist Gründerin des Centers. „Bei den meisten Menschen hier“, sagt sie, „ist es für sich genommen ein Wunder, dass sie am Leben sind. Sie haben ein Trauma. Und wir glauben wirklich daran, dass man durch ein Trauma auch gestärkt werden kann. Ein Trauma kann dich zerstören – oder es kann deine Superkraft werden.“ Die Prothese als Ausweis eines Helden? Der ukrainische Gesundheitsminister Viktor Ljaschko formulierte bei einem Besuch des Centers so: „Eine Prothese kann symbolisieren, dass die Menschen ihr Land verteidigt haben. Also können sie sie mit Stolz tragen.“

Dank einer bionischen Armprothese hat Alexis Cholas seine Arbeit im Gesundheitswesen fortsetzen können. Er verlor als freiwilliger Sanitäter an der Front in der Ostukraine seinen rechten Arm – und seine Karriere als Chirurg. Nun hilft er anderen Menschen mit Amputationen: „Es ist einfacher für mich, mit diesen Leuten zu arbeiten, und ich glaube, sie spüren die so wichtige Unterstützung von mir, sowohl als Arzt als auch als Kriegskamerad, weil ich denselben Weg gegangen bin“, sagt Cholas. Sein bionischer Arm wurde von dem ukrainischen Startup-Unternehmen „Esper Bionic“ hergestellt. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Prothese hilft eine bionische Prothese, die menschliche Feinmotorik wiederherzustellen. Über Elektroden werden die elektrischen Signale von den Muskeln oberhalb der Amputationsstelle aufgenommen, um dann die gewünschte Bewegung auszuführen.

Die Front schreibt das Lastenheft

Für Hersteller ist die Front ein gnadenloses Lastenheft. Patienten sind jünger, aktiver, müssen schnell zurück ins Leben – oder in den Dienst. Wasserfestigkeit, Schmutzresistenz, Reparaturen im Feld und Standard-Ersatzteile lauten die Anforderungen. Zugleich explodiert der Bedarf an Expertise: Zentren bilden Veteranen zu Prothesentechnikern aus, die Europäische Wiederaufbaubank steigen in Bionik-Start-ups ein.

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