Finance & Freedom Wenn die Putzfrau von der Caritas kommt: die teure Wahrheit über die Pflegeversicherung

Wenn die Putzfrau von der Caritas kommt: die teure Wahrheit über die Pflegeversicherung

In Berlin tobt der politische Streit darum, ob der Pflegegrad 1 aus Kostengründen abgeschafft werden soll. Vielleicht wäre das gar nicht nötig, wenn nicht eine ganze Branche gut davon leben würde, die Versicherungsleistung auszunutzen, wo es geht.

Deutschland ist das Land der Helikopterdebatten: Von ziemlicher Höhe herab werden Debatten geführt und am Ende Beschlüsse gefasst, die mit der Wirklichkeit unten auf dem Boden der Tatsachen nicht immer viel zu tun haben. Und ich meine, es ist da mein Job als Journalist, solche Debatten zu erden und die Helikoptersicht der eigenen Erfahrung gegenüberzustellen. Die Ergebnisse sind dann oft etwas anders – und das geht mir gerade bei der Diskussion um die Pflegeversicherung so.

Die Fronten, die Politik, Sozialverbände und in ihrem Gefolge die meisten Medien zeichnen, verlaufen so: Die Pflegeversicherung hat Geldsorgen. Denn seit Jahren steigen die Kosten. Die Ausgaben lagen zuletzt bei 68,2 Milliarden Euro, die Tendenz geht stark nach oben. Sparmaßnahmen würden den Sozialstaat entlasten, denn die Einnahmen decken schon lange nicht mehr die Ausgaben. Aber das Sparen darf natürlich nicht zu Lasten der Betroffenen gehen, die sowieso schon nichts zu lachen haben. Die SPD verwahrt sich entschieden gegen Leistungskürzungen. Und einer wie Arun Ananth, als Geschäftsleiter des Deutschen Pflegehilfswerks tief drin in der Pflegeindustrie, stellt fest: „Der monatliche Entlastungsbetrag ist für viele unverzichtbar, um Alltagshilfen zu finanzieren und Pflege zu Hause zu ermöglichen.“

Jetzt bin ich kein Zahlenmensch, aber zum Nachrechnen reicht es. Die Kosten für die Pflege haben sich seit der Jahrtausendwende vervierfacht. Gleichzeitig haben sich die Einnahmen verdreieinhalbfacht: von 1 Prozent des Bruttolohns auf mittlerweile 3,6 Prozent. Selbst, wenn ich eine Inflation einberechne, wenn ich unterstelle, dass es wegen einer älteren Bevölkerung mehr Pflegebedürftige gibt als vor einem Vierteljahrhundert, frage ich mich, woher diese Ausgabenexplosion kommt.

Ich begebe mich auf Spurensuche. Ich fahnde nach Fällen in meiner Umgebung, was immer ein Mittel ist, um Anspruch und Wirklichkeit zu vergleichen. Ich treffe auf eine Familie in Mitteldeutschland, ein Beamtenhaushalt mit Haus und Garten, alles abbezahlt. Dem Hausherrn geht es mit seinen 80 Jahren nicht besonders gut, seine Frau ist jünger und fitter. Sich Leistungen aus der Pflegeversicherung auszahlen zu lassen, war eine lange Diskussion in der Familie und mit Ärzten. Denn das Inanspruchnehmen bedeutet auch so etwas, wie der amtliche Stempel, nicht mehr selbständig klarkommen zu können. Der Stolz steht da manchmal im Weg. Seitdem das überwunden ist, macht die Familie aber eine erstaunliche Entdeckung: Haushaltshilfen von der Reinigungskraft bis zum Gärtner verteuern sich mit einem Schlag. Die Putzfrau geht nicht unter 70 Euro für einmal Saubermachen nach Hause.

Ich schlage nach und erfahre: Wer Angebote zur Unterstützung im Alltag offeriert, wozu auch haushaltsnahe Dienstleistungen gehören, muss vor dem Einsatz eine Schulung machen nach § 45a SGB XI, Sozialgesetzbuch also. 30 Unterrichtseinheiten mit jeweils 45 Minuten sind meistens Pflicht. Das gilt auch für ehrenamtliche Helfer. In Nordrhein-Westfalen ist sogar bei der Nachbarschaftshilfe der Nachweis eines Pflegekurses gefordert. Ohne so einen Kurs können die Leistungen nicht bei der Pflegekasse abgerechnet werden. Um zu kalkulieren, was nun passiert, reicht ebenfalls das kleine Einmaleins: Die Kosten für eine Reinigungshilfe liegen laut dem in dieser Branche führenden Vermittlungsportal Wecasa regional unterschiedlich etwa zwischen 20 und 25 Euro. Ein anerkannter Pflegedienst, der über die Versicherung abgerechnet werden kann, tritt laut Caritas unter 37,80 Euro pro Stunde auch für die bloße Reinigung nicht an. Ich muss der Familie aus Mitteldeutschland Recht geben: Wenn die Putzfrau von der Caritas kommt, wird es teuer.

Anderer Fall: eine Familie im tiefen Süden der Republik. Beide über 80, die Kinder längst aus dem kleinen und jetzt mit einmal so gut passendem Haus. Die Rente ist nicht üppig, aber zum Leben reicht es. Ein s Urlaub ist drin, Autofahren können beide auch noch. Eigentlich fühlt sich das Paar zehn Jahre jünger, was natürlich manchmal trügerisch ist. Die monatliche Rente aufzubessern, indem sie die Kosten für den Gärtner an die Pflegeversicherung weiterreichen – kommt nicht in Frage. Doch dann kommt der Nachmittag beim Kaffee im Freundeskreis, der in einen fröhlichen Abend übergeht. Es geht um Krankheiten, es geht ums Gesundheitssystem, es geht um die Pflegeversicherung und siehe: Jeder zweite in der gutbetagten Runde räumt ein, mindestens im Pflegegrad eins eingestuft zu sein. Der Rest ist Formsache: Das Ehepaar aus dem Süden lässt sich beim Antrag helfen, sechs Wochen später liegt die Genehmigung vor.

Ich begebe mich wieder auf Spurensuche: Derzeit wird laut dem Gesundheitsministerium etwa jeder fünfte Antrag auf Leistungen aus der Pflegeversicherung von der Kasse abgelehnt. Damit ist das Verfahren jedoch längst nicht beendet, denn die Betroffenen können sich gegen so einen Bescheid natürlich wehren. Hilfe dabei gibt es an jeder Internet-Straßenecke. So rät etwa Maximilian Haas, Leiter der Pflegeberatung beim Verbund Pflegehilfe folgendes: „Im Falle einer Ablehnung ist es wichtig, Widerspruch einzulegen.“  Und er gibt auch gleich Hinweise, wie der Widerspruch zum Erfolg führen könnte: „Betroffene sollten unbedingt eine Kopie des Gutachtens einfordern. Oft finden sich dort Diskrepanzen zwischen der Realität des Pflegealltags und der Einschätzung des Gutachters.“ Der Sozialverband VdK, der Betroffene ebenfalls im Widerspruchsverfahren unterstützt, meldet entsprechende Erfolge: Rund 30 Prozent der so beanstandeten Entscheidungen werden rückgängig gemacht und die Antragsteller erhalten doch ihre Leistungen. Die Erfolgsaussichten sind also durchaus intakt.

Unterm Strich bleibt der Eindruck: Es gibt eine Pflegeindustrie, die stark gewachsen ist. Ich finde ein bereits in die Jahre gekommenes Gutachten der Unternehmensberater von Roland Berger, das zwischen 2005 und 2030 dem Markt in Deutschland ein Wachstum von knapp fünf Prozent bescheinigt, was deutlich über dem derzeit mageren und sonst auch nicht üppigen Wirtschaftswachstum liegt. Das Bundesgesundheitsministerium bestätigt die Zahlen und hat noch genauere: Die Bruttowertschöpfung der Gesundheitswirtschaft lag 2024 bei knapp 457,5 Milliarden Euro. „Die Gesundheitswirtschaft ist damit weiterhin eine Wachstumsbranche auf Expansionskurs“, schreibt die Behörde und es hört sich an, als sei sie sehr zufrieden damit. Die Pflege beansprucht davon einen ständig steigenden Anteil, der in diesem Jahr laut Verband der Ersatzkassen zu einem Defizit von voraussichtlich 3,5 Milliarden Euro führt. Zu diesem Defizit trägt die Branche selber bei, in der jeder davon profitiert, wenn die Ausgaben steigen, und vielen Beteiligten ist es vollkommen egal, dass es aus Steuergeld ausgeglichen werden muss.