Business & Beyond 500 Milliarden – und trotzdem Mittelmaß: Die bittere Wahrheit über Deutschlands Gesundheitssystem

500 Milliarden – und trotzdem Mittelmaß: Die bittere Wahrheit über Deutschlands Gesundheitssystem

Während die Politik über Renten streitet, rast das Gesundheitssystem auf einen Finanzkollaps zu. Krankenkassen warnen vor explodierenden Beiträgen, verklagen den Staat – und Ministerin Warken liefert nur Durchhalteparolen. Wie konnte ein halbes Billionen-System so ineffizient werden?

Eigentlich ist dies die Woche des Rentenpakets: Bundesregierung und jüngere Abgeordnete streiten darüber, ob es ein „Weiter so“ bei den Renten geben soll oder eine echte Reform hermuss, um die steigenden Steuerzuschüsse zu begrenzen. Doch der Pulverqualm dieser Debatte vernebelt eine zweite, ebenso drängende Reformbaustelle: das Gesundheitssystem.

Es ist genauso wenig bezahlbar wie das Rentensystem. Rund 500 Milliarden Euro gibt Deutschland pro Jahr für Gesundheit aus – Tendenz steigend. Die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber klettern wie ein Bergsteiger die Steilwand hinauf, und wie lange die Steuerzuschüsse – derzeit 14,5 Milliarden Euro jährlich – noch ausreichen, kann keiner sagen.

Vor diesem Hintergrund ist die Botschaft des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherer (GKV) in dieser Woche unmissverständlich: Ohne ein Sparpaket von 50 Milliarden Euro droht der Beitragssatz zu explodieren. Derzeit liegt er bei 17,5 Prozent, bis 2027 könnten es 18,1 Prozent sein, bis 2030 dann 19,1 Prozent, bis 2040 sogar 22,7 Prozent. Die Kassen wollen gedeckelte Pflegekosten in Kliniken, weniger Zusatzhonorare bei Ärzten und strengere Preisregeln für Medikamente. Die Warnung ist klar: Wer weiter wirtschaftet wie bisher, riskiert Beitragssprünge, die Millionen Beschäftigte und Unternehmen hart treffen.

Beitragszahler vor dem Abgrund

Zu dieser Prognose kommt ein zweiter Kostenfaktor, gegen den die Kassen jetzt offensiv vorgehen: die Versorgung von Bürgergeldempfängern. Der Staat hat die Kassen verpflichtet, die Versorgung zu übernehmen – aber übernimmt nach Angaben des GKV nur rund ein Drittel der tatsächlichen Kosten. Rund zehn Milliarden Euro bleiben Jahr für Jahr ungedeckt. Die Kassen haben deshalb Klage eingereicht, unter anderem beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Uwe Klemens, Verwaltungsratschef des GKV-Spitzenverbands, spricht von einer „rechtswidrigen Unterfinanzierung“ und kündigt an: „Ab jetzt rollt die Klagewelle und wir lassen nicht locker.“ Es ist ein beispielloser Vorgang: Die Selbstverwaltung des Gesundheitssystems verklagt den Staat – nicht aus Trotz, sondern weil die Finanzierung zu zerbrechen droht.

Dabei ist die Klage nur Symptom einer viel tieferen Krise. Schon 2024 stiegen die Leistungsausgaben der Kassen um 8,2 Prozent. Pro Einwohner zahlt Deutschland fast 6000 Euro im Jahr für Gesundheit – so viel wie kein anderes EU-Land. Doch das Ergebnis rechtfertigt diese Ausgaben nicht. Der Medizinwissenschaftler Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung fasst es trocken zusammen: „Statt Krankheiten zu verhindern, konzentriert sich das System zu sehr auf deren Behandlung.“ Er spricht von einem ineffizienten „Reparatursystem“. Hinzu kommt Überversorgung: Hüft- und Knie-Operationen etwa zählen in Deutschland zu den häufigsten in Europa, nicht aus medizinischer Notwendigkeit, sondern weil das Vergütungssystem es belohnt.

Reformstau mit Ansage

Und nun? Gesundheitsministerin Nina Warken wirkt hin- und hergerissen. In einer Haushaltsrede sagte sie: „Wir wollen das System nicht kaputtsparen.“ Gleichzeitig verspricht sie Reformen, ohne sie bisher zu liefern: „Mit tiefgreifenden Reformen in Gesundheit und Pflege stärken wir die Versorgungssicherheit – jetzt und in Zukunft“, heißt es in ihrem politiker-Sprech. Tatsächlich gibt es kein Konzept, das erklärt, wie ein aus dem Ruder gelaufenes Megasystem mit jährlich halbem Billionenaufwand effizienter werden soll. Zuletzt erteilte die Ministerin auch Forderungen nach einem Basistarif oder einer starken Selbstbeteiligung eine Absage: „Es darf nicht vom Geldbeutel abhängen, wie ein Mensch medizinisch versorgt wird.“ Eine noble Haltung – aber ohne Antwort auf die Frage, wie das System dann finanziert werden soll.

Das Ergebnis ist ein gesundheitspolitischer Schwebezustand: höchste Kosten, nur mittelmäßige Ergebnisse, keine echte Reform. Die Bürgergeld-Kosten machen dabei nur rund zwei Prozent der Gesamtausgaben aus – sie sind also nicht die Ursache der Misere, aber der Brennpunkt, an dem die Widersprüche des Systems sichtbar werden. Ein Staat, der auf Kosten der Beitragszahler spart. Kassen, die Beiträge erhöhen müssen, weil der Bund seinen Anteil nicht zahlt. Und eine Ministerin, die zwar auf Solidarität pocht, aber keine Mittel hat, sie zu retten.

Deutschland zahlt Spitzenpreise fürs Gesundheitssystem und bekommt Mittelmaß geliefert. Gemessen an der Lebenserwartung liegen die an sich doch gut versorgten Deutschen innerhalb Europas nur im hinteren Mittelfeld. Ein Skandal für ein Land, das sich rühmt, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zu besitzen. Und ein Auftrag: Eine echte Reform – strukturell, finanziell, mutig – ist überfällig. Denn wer jetzt nur spart, verschlechtert die Versorgung. Wer weitermacht wie bisher, treibt das System über die Klippe. Falls Warken und die Bundesregierung die Reform hinausschieben, könnten die Renten- und Bürgergelddiskussionen der vergangenen Wochen wie Randnotizen erscheinen.