Business & Beyond Kälte-Schock? So verwundbar ist Deutschlands Gasversorgung wirklich

Kälte-Schock? So verwundbar ist Deutschlands Gasversorgung wirklich

Alle geben sich entspannt. Aber: Russisches Gas ist fast Geschichte, Flüssiggas schwankt im Preis, Katar droht mit Lieferstopp, die Speicher sind so leer wie selten – und der Winter steht erst am Anfang. Müssen wir diesen Winter doch noch frieren?

Die deutschen Gasspeicher sind weit davon entfernt, für den Winter ausreichend gefüllt zu sein. Sollte es im Laufe der kommenden Monate einmal richtig kalt werden, und dies über vielleicht Wochen hinweg, könnte es eng werden. Genau so sieht es in den ersten Dezembertagen aus: Die Gasspeicher sind zu 64,54 Prozent gefüllt, also nicht einmal zu zwei Dritteln. Diese Vorräte entsprechen 162 TWh oder einer Versorgungsdauer von etwa 18 Tagen. So berichtet es die Gas Infrastructure Europe (GIE) für den 7. Dezember. Der Wert markiert den niedrigsten Dezemberstand seit Jahren; selbst 2022, als man einen Krisenwinter befürchtete, und der Ukraine-Krieg erst ein paar Monate alt war, zeigte sich die Lage entspannter. Im Jahr 2025 spielte der November eine Sonderrolle, da aufgrund der Witterung bereits gut 10 Prozentpunkte Verbrauch zu Lasten der Speichermenge ging.

In der Öffentlichkeit regt sich dennoch keine große Unruhe. Offenbar, so sehen es Experten, traut man sich gegebenenfalls noch private Einschränkungen zu, ohne groß darunter zu leiden – so zumindest eine Denkschule. Zum anderen zeigte die Erfahrung der letzten Jahre, dass es am Ende so schlimm nicht kommt wie befürchtet, und das lässt viele die Frage derzeit nicht so dringend erscheinen. Krisen gibt es schließlich auch so genug. Doch die Nonchalance oder „Krisenmüdigkeit“ könnte sich als trügerisch erweisen, auch wenn Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller „entspannter“ auf die Lage blickt als in den Vorjahren. Fakt bleibt: Bei extrem kaltem Winterwetter könnten die Speicher im Januar leerlaufen.

Neue Abhängigkeiten, neue Risiken

Was dennoch für die entspannte Haltung spricht: Im Gegensatz zu früheren Wintern steht Deutschland heute ganz anders und vor allem besser da, denn entscheidende Unterschiede gibt es in den Versorgungswegen. So ist etwa die letzte Gasleitung (ausgerechnet mit dem Namen „Pipeline der Brüderschaft“) aus Russland über die Ukraine seit dem 1. Januar 2025 gekappt. Die von Moskau angegriffene Ukraine hatte den Vertrag mit der russischen Gazprom gekündigt, um dem Aggressor keine Einnahmen zu verschaffen. Auch wenn diese Entwicklung spätestens mit dem Stopp der Versorgung über die Nordstream-Pipeline im August 2022 absehbar wurde, so trifft der Ausfall insgesamt dennoch Industrie und Verbraucher hierzulande. Denn: Was aus der zwangsläufigen Umorientierung auf andere Gasquellen folgen muss, sind höhere Preise. Bislang sind die vergleichsweise moderat. Am 5. Dezember lagen die Kosten für eine Megawattstunde am niederländischen Spotmarkt TTF bei  27,30 Euro. Das ist etwa 40 Prozent niedriger als zum gleichen Zeitpunkt 2024. Zu Krisenzeiten wie 2022 ist dieser Preis schon auf bis zu 120 Euro gestiegen. Man kann also ungefähr erahnen, was eine unvorhergesehene Disruption mit sich bringen könnte.

Unabhängig davon, dass nun die Hauptquelle Deutschlands Flüssiggas ist (LNG), das beim Schiffstransport vor- und nachbehandelt werden muss und daher sowieso schon rund 20 Prozent teurer ist als Pipeline-Gas, zeigte sich diesmal im Sommer 2025 eine Abweichung nach oben von den erwartbaren Preisverläufen. Dies ist mit ein Hauptgrund, warum die Speicherfüllung diese Saison niedriger blieb als in den Vorjahren. Denn die Gasindustrie rechnet in den Sommermonaten gewöhnlich mit niedrigeren Preisen, was aber im Sommer nicht passierte. Erst im Herbst gab es maßvoll günstigere Einkaufskonditionen, ehe dann die Kosten im November wieder stark anstiegen. Derzeit bezieht Deutschland sein Gas aus Norwegen über drei Pipelines, importiert LNG aus den USA und aus den Golfstaaten. Das bedeutet auch weit stärker schwankende Preise als zuvor gewohnt, so die Wirtschaftsagentur Bloomberg. Händler müssen teils schnell reagieren oder aber abwarten – immerhin können die Schwankungen innerhalb weniger Tage bis zu dreißig Prozent betragen, da könnte die Gewinnspanne bei zu teurem Einkauf durchaus bei Null landen.

Der Versorger Uniper, mit eigenen unterirdischen Speichern am Markt, stellt in einer neuen Studie die Speicherung von ausreichend Gas als entscheidend für die deutsche Wirtschaft dar: „Gut gefüllte Gasspeicher können eine wirtschaftliche Rezession verhindern und die Energiemärkte stabilisieren. Im Stressszenario senken sie die volkswirtschaftlichen Schäden um rund 25 Mrd. Euro – unzureichend gefüllte Speicher könnten 40 Mrd. Euro kosten“. Ebenso „glätten hohe Speicherstände Gas- und Strompreisspitzen und schützen Kaufkraft sowie Investitionen“. So die Argumentation der Studie zu einer höheren Befüllung der deutschen Speicher. Für die Importeure fehlt es aber offenbar an Preisanreizen, mehr lagern zu lassen.

Wirtschaftliche Folgen einer Gaskrise

Die Bundesnetzagentur beobachtet derweil nach eigenen Angaben den Markt, sieht aber bislang noch keine Veranlassung, die erste der drei Warnstufen auszurufen. Man geht offenbar davon aus, dass sich weiterhin bei milderer Witterung die Gasspeicher nicht so schnell leeren werden. Für die Industrie, die eine Rationierung zuerst schultern müsste, stellt sich die Lage etwas unsicherer dar. Denn angesichts der herrschenden Rezession sind auch Investitionen in die Gasverarbeitungsanlagen ausgeblieben oder nur in kleinerem Maßstab umgesetzt worden. Bei plötzlich ansteigendem Bedarf könnte das zu Engpässen führen. Im Ernstfall würden Drosselungen bei Großverbrauchern wie Stahl- oder Chemieindustrie notwendig. Der Umstieg auf andere Brennstoffe ist seit der Abschaltung der letzten Kernkraftwerke nur eine Notfallösung. Die privaten Verbraucher in Deutschland sind hingegen geschützt, so will es der Gesetzgeber in seinen Versorgungsrichtlinien. Wovor sie nicht geschützt sind allerdings hohe Kosten.

„Ein sehr kalter Winter würde vor allem zu massiven Preis- und wirtschaftlichen Belastungen führen — hohe Energiepreise, Produktionsausfälle, politische Maßnahmen zur Lastverteilung“, resümiert die Nachrichtenagentur Reuters. Die Bundesregierung und Regulatoren halten die Lage zwar „unter Beobachtung“ und sehen das Risiko als kontrollierbar, nennen aber explizit die Gefahr bei extremen Kälteereignissen.

Was weniger öffentlich diskutiert wird, aber mit Sicherheit ein wichtiges Thema der Behörden sein dürfte: Die physische Sicherheit der Versorgung. Nicht zuletzt seit dem Sabotageakt an der Nordstream-Pipeline richtet sich der Blick auf mögliche terroristische Aktivitäten, Staatsterrorismus nicht ausgeschlossen. Auch der LNG-Schiffsverkehr ist verletzlich. In einem solchen Fall würden vorrangig die sogenannten kritischen Infrastrukturen versorgt. Für alle nachgeordneten Verbraucher könnte es knapp werden.

Anfang November sorgte eine weitere Meldung für Unruhe: Der Golfstaat Katar, der rund zwölf Prozent der EU-Versorgung beisteuert, drohte mit Einstellung seiner Lieferungen – wegen der kommenden EU-Lieferkettenvorschriften, die lückenlose Dokumentation von Förderung bis Transport einfordern. Katar wollte sich dem nicht beugen, auch aus Kostengründen natürlich. Die USA, mit 45 Prozent der LNG-Versorgung unverzichtbar, stellten sich an die Seite Katars und erhöhten damit den Druck. Bis heute wurde die Drohung nicht umgesetzt, aber hektische Diplomatie war die unmittelbare Folge – so berichtete es das Handelsblatt. Das sollte der lang diskutierten Entschärfung der geplanten Richtlinie vielleicht etwas Dampf machen.

Ansonsten sorgen die geopolitischen Spannungen auch für neue, ungeahnte Wege. In den letzten Jahren hat sich vor allem Griechenland als neuer Schlüsselplayer entpuppt. Das Land versorgt seine nördlichen Nachbarn per Pipeline mit seinem importierten Flüssiggas: Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Moldau – aber vor allem auch: die Ukraine. So kommt es zu der verqueren Situation, dass die Ukraine am Ende doch noch Gas von Gazprom erhält. Nämlich via Griechenland, das es importiert.