Work & Winning Unbegrenzter Urlaub: Dieser Pflegedienst wagt das Arbeitszeit-Experiment

Unbegrenzter Urlaub: Dieser Pflegedienst wagt das Arbeitszeit-Experiment

Ein Göttinger Pflegedienst testet unbegrenzten Vertrauensurlaub – trotz Personalmangel in der Branche. Das Pilotprojekt könnte ein neues Arbeitsmodell für den gesamten Gesundheitssektor etablieren.

Während die meisten Deutschen ihre 30 Urlaubstage penibel planen, geht ein mittelständisches Unternehmen aus Niedersachsen einen radikal anderen Weg. Der ambulante Betreuungsdienst FrohZeit aus Göttingen hat zehn seiner 65 Mitarbeitenden für 2026 unbegrenzten bezahlten Urlaub zugesichert. In einer Branche, die chronisch unter Personalmangel leidet, klingt das zunächst wie wirtschaftlicher Selbstmord.

Vertrauen statt Kontrolle: Das Konzept hinter dem Modell

Die Grundidee ist simpel: Wer täglich eigenverantwortlich in den Wohnungen von Pflegebedürftigen arbeitet, hat bereits bewiesen, dass er Vertrauen verdient. „Vertrauen ist in der ambulanten Betreuung kein Schlagwort – es ist Voraussetzung. Wir möchten dieses Vertrauen als Arbeitgeber sichtbar zurückgeben“, erklärt Geschäftsführer Daniel Rupp in einer „Pressemitteilung“.

Die Rahmenbedingungen sind klar definiert: Urlaub muss zwei Monate im Voraus beantragt werden, und die Versorgung der rund 870 betreuten Personen hat stets Priorität.

Per Losverfahren zum unbegrenzten Urlaub

Bei der Weihnachtsfeier 2025 entschied eine Bingotrommel über die zehn Glücklichen, die am Pilotprojekt teilnehmen dürfen. Eine der Gewinnerinnen, Susanne Kerl, bringt ihre Erleichterung auf den Punkt:

„Mir ist eine riesige Last von den Schultern gefallen“. Besonders Alleinerziehende sollen von der Flexibilität profitieren, ohne ständig Überstunden für die Schulferien ansammeln zu müssen.

Wirtschaftliche Kalkulation hinter dem Experiment

Der wirtschaftliche Ansatz ist durchdacht: FrohZeit spekuliert darauf, dass die gesteigerte Mitarbeiterzufriedenheit zu weniger Krankheitstagen und höherer Produktivität führt.

Gleichzeitig soll das ungewöhnliche Arbeitszeitmodell bei der Personalgewinnung helfen – ein entscheidender Faktor in der umkämpften Pflegebranche. Bei erfolgreicher Testphase plant das Unternehmen, den „unbegrenzten Vertrauensurlaub“ ab 2027 für alle Mitarbeitenden einzuführen, wie FrohZeit mitteilt.

Zwischen Freiheit und Verantwortung

Was „unbegrenzt“ konkret bedeutet, zeigt das Beispiel eines Mitarbeiters, der eine dreimonatige Fahrradtour durch Europa plant. Solche ausgedehnten Auszeiten sind möglich – vorausgesetzt, die Betreuungskontinuität bleibt gewährleistet.

Das Team organisiert Vertretungen eigenverantwortlich und stimmt diese mit Patienten und Angehörigen ab. Laut Pressemitteilung ist das Modell keine Einladung zum Wegbleiben, sondern ein Instrument für bessere Work-Life-Balance.

Business Punk Check

Der Vertrauensurlaub klingt revolutionär, aber die Wahrheit liegt in der Umsetzung. Während Tech-Giganten wie Netflix ähnliche Modelle bereits praktizieren, ist die Pflegebranche mit ihrer strengen Personaleinsatzplanung ein völlig anderes Terrain. Die kritische Frage: Werden die Mitarbeiter tatsächlich mehr Urlaub nehmen – oder aus Kollegialität sogar weniger?

Für den Mittelstand könnte das Modell dennoch ein cleverer Schachzug sein: Es kostet nichts, wenn niemand es nutzt, schafft aber enormes Employer-Branding. Die wahre Innovation liegt nicht im Konzept selbst, sondern in der Anwendung auf eine Branche, die bisher für starre Arbeitszeiten bekannt war. Mittelständische Gesundheitsdienstleister sollten genau hinschauen – hier entsteht möglicherweise ein Blaupause für den gesamten Sektor.

Häufig gestellte Fragen

  • Ist unbegrenzter Urlaub für mittelständische Unternehmen wirtschaftlich tragbar?
    Ja, aber mit klaren Rahmenbedingungen. Entscheidend ist ein transparentes System für Vertretungsregelungen und frühzeitige Planung. Mittelständler sollten zunächst mit einer Testgruppe starten und klare KPIs für den Erfolg definieren: Krankheitstage, Mitarbeiterbindung und Bewerberzahlen sind aussagekräftige Indikatoren.
  • Wie können Gesundheitsdienstleister ähnliche Modelle implementieren?
    Der Schlüssel liegt in der schrittweisen Einführung. Beginnen Sie mit einer Pilotgruppe von 10-15% der Belegschaft, definieren Sie klare Antragsfristen (mindestens 6-8 Wochen) und etablieren Sie ein transparentes Vertretungssystem. Wichtig: Schaffen Sie eine Kultur, in der Urlaubsnahme positiv besetzt ist und nicht als „im Stich lassen des Teams“ gilt.
  • Welche Branchen könnten als nächstes von solchen Arbeitsmodellen profitieren?
    Besonders der Bildungssektor, IT-Dienstleister und Beratungsunternehmen im Mittelstand könnten folgen. Überall dort, wo eigenverantwortliches Arbeiten bereits etabliert ist und Ergebnisse wichtiger sind als Anwesenheit, lässt sich das Modell adaptieren. Entscheidend ist die Messbarkeit der Arbeitsergebnisse und ein funktionierendes Vertretungssystem.
  • Was bedeutet das Modell für die Zukunft der Arbeitsmarktpolitik?
    Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel: Statt starrer gesetzlicher Regelungen werden individuelle, unternehmensbasierte Arbeitszeitmodelle an Bedeutung gewinnen. Die Politik muss flexible Rahmenbedingungen schaffen, statt Einheitsmodelle vorzuschreiben. Für Arbeitgeberverbände bedeutet dies, Best Practices zu sammeln und branchenspezifische Leitlinien zu entwickeln.
  • Wie verändert unbegrenzter Urlaub die Führungskultur im Mittelstand?
    Führungskräfte müssen von Kontrolleuren zu Coaches werden. Statt Anwesenheit zu überwachen, liegt der Fokus auf Ergebnissen und Teamorganisation. Mittelständische Unternehmen brauchen dafür neue Führungsinstrumente: regelmäßige Feedback-Gespräche, transparente Leistungsindikatoren und klare Kommunikationsstrukturen für verteilte Teams.

Quellen: Pressemitteilung FrohZeit