Leadership & Karriere Whisky aus Fukushima: Nachgeschmack der Katastrophe

Whisky aus Fukushima: Nachgeschmack der Katastrophe

Nach dem Tsunami rettete Tetsuzô Yamaguchi mit Whisky die Traditionsbrennerei seiner Vorfahren. Nun soll „Made in Fukushima“ zu einem Qualitätssiegel werden.

von Felix Lill

Wenn Tetsuzô Yamaguchi seine Heimat in Geschmacksnoten beschreiben soll, verzieht der kurz gewachsene Mann mit schütterem Haar das Gesicht. Er legt sein Kinn in der linken Hand ab und stößt ein langes Stöhnen aus. „Hmmm“, macht er, überlegt, wägt ab, dann setzt er an: „Leicht süß, auch mal rauchig.“ Aber, sagt Yamaguchi, das sei nicht alles. Fukushima sei so vielschichtig, schwer zu greifen. Deshalb ergänzt er seine Beschreibung noch um einen Aspekt: „Vielleicht ist das Wichtigste die Stärke des Nachgeschmacks“, sagt Yamaguchi. „Es bleibt wirklich lange etwas zurück.“

Der Spirituosenbrenner in zehnter Generation ist Inhaber des 1765 gegründeten Familienbetriebs Sasanokawa. Und wie er von der Vielschichtigkeit seiner Heimat spricht, vom langen Nachgeschmack, klingt es wie Allegorie. Nach einer Umschreibung des Unglücks, das Fukushima und seine Bewohner heimgesucht hat. Die Tragödie, die aus einer außerhalb Japans weitgehend unbekannten Gegend einen Namen gemacht hat, der nun in einer Reihe steht mit Schauplätzen verheerender Katastrophen wie nicht zuletzt Tschernobyl.

Am 11. März 2011 wurde im Nordosten Japans zuerst ein Erdbeben der Stärke neun gemessen, danach türmten sich bis zu 40 Meter hohe Tsunamiwellen über der Küste. Fast 20.000 Menschen starben. Dann kam es in dem am Wasser gelegenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi auch noch in drei Reaktoren zu Kernschmelzen. 470.000 Menschen verloren durch die Zerstörung und strahlungsbedingte Evakuierungen an diesen Tagen ihr Zuhause.

Eigentlich startete das Whisky-Biz in dieser Scheune als Nebengeschäft. Doch es wird immer bedeutender.

Die 335.000-Einwohner-Stadt Kôriyama, in der etwas außerhalb des Stadtzentrums der Betrieb von Sasanokawa liegt, ist der zweitgrößte Ort in der Präfektur Fukushima. Mit einer Entfernung von 70 Kilometern zur Reaktorruine ist Kôriyama strahlungsmäßig ungefährlich und wurde zum Zufluchtsort mehrerer heimatlos Gewordener. Aber während die Leute aus der Region wissen, dass die Stadt sicher ist, schert man sich mit wachsender Entfernung umso weniger um lokale Unterschiede. Der Name Fukushima reicht, um alles unter Verdacht zu stellen, was aus der Präfektur kommt. Noch immer leidet die gesamte Region, die annähernd so groß ist wie Schleswig-Holstein, unter dem schlechten Image. Bis heute hat die Wirtschaft vieler Orte ihr Vorkrisenniveau nicht wieder erreicht.

Folgen des Erdbebens

Das Firmengelände von Sasanokawa wirkt wie ein halb industrieller Bauernhof. 19 Leute sind hier beschäftigt, die Führung übernimmt der Chef persönlich. „Da hinten wird Nihonshu hergestellt“, sagt Yamaguchi, also Japans traditioneller Reiswein. „In dem Trakt davor destillieren wir Shôchû“, einen Schnaps, der meist auf Süßkartoffeln oder Roggen basiert. Dann deutet Yamaguchi auf eine Scheune links, die Anlage für Whisky. „Bis vor ein paar Jahren hätte das niemand gedacht. Aber unsere Musik spielt mittlerweile da.“ Nun, was hätte man nach der Katastrophe schon gedacht?

Zum Schluss der Tour über das Produktionsgelände bittet Yamaguchi in ein angestaubtes Besprechungszimmer. Während er über die Zeit der Katastrophe spricht, fasst er sich an den Kopf. „Wir hatten an den Tagen schon echt genug Probleme“, sagt er und zeigt auf ein gerahmtes Schwarzweißfoto neben der Tür. „Sehen Sie den Schornstein da? Durch das Erdbeben brach der zusammen.“ Nicht schlimm für die Produktion, die kohlebefeuerten Öfen waren schon lange außer Dienst gestellt. Allerdings wurden Boiler ramponiert, die unter dem alten Schornstein installiert waren. Und durch die Schäden überall in der Umgebung waren Lieferketten auf nicht absehbare Zeit unterbrochen. „Für eine Woche habe ich den Betrieb erst mal geschlossen“, sagt Yamaguchi. Danach hätten sie zunächst auch nur deshalb wieder aufgemacht, weil in der Nachbarschaft eine Not­unter­kunft eingerichtet wurde. „Wir haben die Leute dort kostenlos mit Drinks beliefert, die wir ad hoc aus unseren Vorräten produziert hatten.“

Nachdem die Situation sich allmählich wieder beruhigt hatte, zeigte sich, was für den Betrieb viel schlimmer war als die extremen Einschränkungen der Produktion: Kaum jemand wollte seinen Schnaps kaufen, geschweige denn trinken, erzählt Yamaguchi. „Nur weil wir aus Fukushima sind.“ Noch heute sieht er schockiert aus, als er darüber spricht. „Unser Wasser ist nicht kontaminiert, das lässt sich beweisen. Unser Reis und die anderen Zutaten sind es auch nicht“, sagt Yamaguchi. Trotzdem brach die Nachfrage ein. China, Südkorea und zwischenzeitlich auch die EU verhängten Importstopps auf Getränke und andere in Fukushima produzierte Lebensmittel.

Irgendwo da drinnen zieht der Alkohol seine Kreise. Impression aus der Produktion von Sasanokawa

Hier hätte die Geschichte eines über 250 Jahre alten Traditionsbetriebs, der seinen mehrfach preisgekrönten Sake bis dahin in alle möglichen Länder exportierte und im Inland eine Hausmarke war, enden können. „Wir hatten damals wirklich keine Ahnung, wie es weitergehen sollte“, sagt der heute 66-jährige Yamaguchi.

Ein befreundeter Großhändler aus der Stadt brachte ihn letztlich auf die rettende Idee, wie seine Firma die Katastrophe überstehen könnte: „Eines Tages rief er mich an und fragte: ‚Tetsuzô, warum macht ihr nicht einen neuen Whisky?‘ Ich überlegte und fragte mich dann selbst: Ja, warum eigentlich nicht?“

Privat interessiert sich Yamaguchi nicht übermäßig für das ursprünglich europäische Getränk. „Zu Hause trinke ich abends mit meiner Frau Nihonshu.“ Das habe in der Familie Tradition. Andererseits hat Japan sich unter Whiskykennern einen guten Ruf erarbeitet. Destillerien wie Suntory und Nikka haben internationale Preise gewonnen, kleinere Brennereien boomen. Hinzu kam, dass man bei Sasanokawa während der Boomjahre der Nachkriegszeit ein preiswertes Gebräu auf Whiskybasis auf den Markt gebracht und bis zum Platzen der Spekulationsblase in den 90ern ein wachsendes Whiskygeschäft aufgebaut hatte. Man könnte also mit einer neuen Marke an die eigene Tradition anknüpfen. Alles keine Garantie für Yamaguchi, dass die Sache am Ende nicht doch am Fukushima-Stigma scheitert. Man würde es nur erfahren, wenn man es ausprobiert.

Testlauf mit Importware

Mut machten Yamaguchi vereinzelte Erfolgsstorys aus der Region. Da war der Gitarrenbauer aus Tokio, der in die vom Tsunami weitgehend verschluckte Kleinstadt Onagawa nördlich von Fukushima zog, um dort in einem neu gegründeten Geschäft Musikinstrumente mit Materialien aus der Region herzustellen und diese ins ganze Land zu verkaufen. Oder der ehemalige Manager des für die Kraftwerksruine verantwortlichen Stromversorgers Tepco, der auf Tsunami-Brachland einen Solarpark und eine Gemüsefarm gründete. Ein Whisky allerdings aus einer Gegend, deren Grundwasser die Welt für radioaktiv verstrahlt hält, das ginge noch ein Schritt weiter.

Der Aufbau einer eigenen Produktion war zunächst auch kein Thema. Erst einmal musste Yamaguchi klären, ob eine neue Whiskymarke mit der Herkunftsangabe Fukushima überhaupt eine Chance am Markt haben würde. Er kaufte verschiedene Single Malts aus Schottland ein, um diese in Kôriyama zu blenden. Keine Zutaten aus Fukushima also, nur die finalen Herstellungsschritte geschahen hier. 2014 kam der gefällige Tropfen unter dem Namen Yamazakura, Kirschblütenberg, in die Geschäfte. „Er verkaufte sich ganz gut“, sagt der Chef, der den Whisky selbst abgeschmeckt hatte. Dann zuckt er mit den Schultern und räumt ungefragt ein: „Seit einigen Jahren wächst das Whiskygeschäft in Japan sowieso mit sechs bis sieben Prozent pro Jahr.“ Es wirkt, als sei Yamaguchi selbst nicht so sicher, ob der Erfolg seines ersten Experiments mit dem inzwischen in mehreren Varianten unter der Marke Yamazakura erhältlichen Blends schlicht dem steigenden Durst der Verbraucher geschuldet ist oder doch Ausweis von Qualität und zurückerlangtem Vertrauen.

Hier lagert die Zukunft: Ende 2019 will Sasanokawa den ersten selbst destillierten Whisky verkaufen.

Mit seiner zweiten Marke wollte er es genau wissen. 2017 launchte Yamaguchi den Whisky 963. Die Ziffernkombination deutet auf die Postleitzahl von Kôriyama hin. „Made in Fukushima“ steht hier nicht mehr nur klein gedruckt am Flaschenrand, es ist der Produktname. „Das war der Lackmustest“, erinnert sich Yamaguchi und schielt rüber zu seinem Schreibtisch, an dessen Kante eine Flasche steht. „Erstaunlicherweise geht auch der richtig gut.“ Was zum einen natürlich an der cleveren PR-Story liegen dürfte, die in einem lokalpatriotischen Whisky aus der Katastrophenregion steckt. Zum anderen stimmt offensichtlich auch die Qualität: Whiskybars, die etwas auf sich halten, haben 963 im Angebot. Selbst nach Europa, wo kaum jemand die Anspielung im Namen entschlüsseln dürfte, wird die Whiskymarke mittlerweile exportiert.

Umsatztreiber Export

Der Erfolg lässt sich in Zahlen ausdrücken: Im Jahr vor der Krise setzte Sasanokawa rund 400 Mrd. Yen um, rund 3,4 Mio. Euro. Heute sind es 500 Mrd. Yen. Während Exporte damals keine zehn Prozent des Umsatzes ausmachten, stehen sie heute für die Hälfte des Geschäfts. Seit zwei Jahren erwirtschaftet der Betrieb mehr als die Hälfte seiner Einnahmen durch Whisky. Sechs weitere Arbeitskräfte konnte Yamaguchi dank des Erfolgs einstellen. Dagegen befindet sich der Absatz der Schnapssorten Nihonshu und Shôchû heute ein Drittel unter dem Vorkrisenniveau. Das liegt auch daran, dass China und Südkorea ihre Importstopps bis heute aufrechterhalten.

Yamaguchi ist es gelungen, seine Firma im Windschatten des japanischen Whiskybooms durch die Krise zu manövrieren. Aber mehr noch: Mit dem selbstbewussten Auftreten trägt Sasanokawa dazu bei, das Fukushima-Stigma Stück für Stück zu überwinden. Yamaguchi selbst wiegelt ab: „Das müssen wir erst noch sehen.“

Doch als hätte er auf das Stichwort gewartet, steht der Chef von seinem alten Ledersofa auf, stapft aus dem Besprechungszimmer ins Großraumbüro. Er bittet eine Mitarbeiterin, ihm ein Faltblatt aus Hochglanzpapier zu holen. Einen Werbezettel für den zweiten Whisky, der demnächst unter der Marke Yamazakura angeboten werden soll. „Vor drei Jahren haben wir begonnen, unseren ganz eigenen Whisky aus Fukushima zu produzieren“, erklärt Yamaguchi stolz. „Kein Blended aus anderen Marken, sondern ein Single Malt aus unserer eigenen Herstellung. Ende des Jahres kommt er auf den Markt.“ Eine süßliche, feine Note solle er bekommen. Und nach dem Schlucken noch lange Momente im Mund nachschmecken – eben wie die Region, aus der er kommt.

„Das wird ein echt hochwertiger Tropfen“, sagt Yamaguchi. „Mit ihm werden wir erkennen, wie bereit der Markt für edle Spirituosen aus Fukushima ist.“ Erste Tests machen Mut. Frühe Abfüllungen, die den Fässern entnommen wurden, ehe die Spirituose die für Whisky vorgegebenen drei Jahre gelagert hat, verkauft Yamaguchi bereits in limitierten Mengen. Der Preis der 0,7-Liter-Flasche Yamazakura Newborn aus Fukushima: 64 800 Yen, umgerechnet knapp 550 Euro.

 

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