Business & Beyond Pflege am Limit: Wie Hightech Milliarden sparen könnte, ohne bei Menschen zu kürzen

Pflege am Limit: Wie Hightech Milliarden sparen könnte, ohne bei Menschen zu kürzen

Berlin diskutiert über Kürzungen in der Pflegeversicherung. Ein wichtiger Hebel gerät dabei aus dem Blick: KI- und Robotersysteme könnten Milliarden sparen, wenn sie konsequenter eingesetzt würden.

Alles spricht vom Sparen in der Pflege – und fast niemand sagt, wie das gehen soll, ohne dass Menschen betroffen sind, die Auszahlungen aus ihrer Pflegeversicherung dringend nötig haben. Ein Weg ist bislang völlig aus dem Focus geraten: High Tech kann dabei helfen, die Kosten der Pflege einzudämmen, ohne bei den Leistungen zu sparen. Weltweit forscht und entwickelt ein ganzer Industriezweig daran, wie einer älter werdenden Bevölkerung durch Maschinen geholfen werden kann. Mit KI und Robotern hat dieser teil der Gesundheitsbranche einen gewaltigen Schub bekommen.

In Berlin läuft seit Wochen die Debatte so: Der sogenannte Pflegegrad 1 soll gestrichen werden. Er wird an diejenigen ausgezahlt, die mit „geringen Einschränkungen in der Selbständigkeit“ leben müssen, wie es der Gesetzgeber formuliert. Mindestens 131 Euro im Monat erhalten sie, und haben beispielsweise den Anspruch ihre Wohnung für mehr als 4000 Euro behindertengerecht umbauen zu lassen. Das RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung schätzt das Einsparvolumen auf rund 1,8 Milliarden Euro pro Jahr, das ist nur ein Bruchteil von jenen 63 Milliarden Euro, die jährlich an Pflegeleistungen ausgezahlt werden. Damit haben sich die Kosten seit der Jahrtausendwende mehr als vervierfacht. Die Zahl der Pflegekräfte verdoppelte sich seitdem auf 1,2 Millionen. Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) spricht inzwischen von einem drohenden Milliardenloch. Die SPD ahnt Schlimmes und ihre Abgeordneten wie etwa Christos Pantazis „verwahren sich gegen Leistungskürzungen in der Pflegeversicherung“. Der Streit ließe sich vermeiden, das Loch ließe sich schließen, die ständig höheren Ausgaben müssten nicht sein, wenn Anbieter in der Pflege konsequent darauf setzten, was ihnen an technologischen Hilfsmitteln zur Verfügung steht. Künstliche Intelligenz und Pflege-Roboter übernehmen Dokumentationen und das Anlegen von Patientenakten, sie laufen Wege, erinnern und melden Sturzgefahr, bevor es zum Sturz kommt. Das spart Zeit, es spart Geld und kann – in einer idealen Welt – Pflegekräfte  frei für das zeit finden lassen, worauf es auch ankommt: Nähe und Gespräch.

Der Nutzen lässt sich messen. Eine aktuelle Studie im Auftrag des Gesundheitsministeriums zeigt: Telepflege – also digitale Besuche und Alarmketten – senkt Wege- und Reaktionszeiten um 29 bis 58 Prozent. „Eine Lösung zur Überwindung des Pflegepersonalmangels liegt in der Erhöhung der Arbeitsproduktivität mittels Technikeinsatz“, haben die Autoren erkannt. Und machen auch gleich fünf Themenfelder aus, wo die Technik segenreich eingreifen könnte: elektronischer Datenerfassung, technische Assistenzsysteme, Wundmanagement, Robotik, und Beratung. Die Bertelsmann-Stiftung nennt so ein System in einer Untersuchung „Pflege 4.0“ und sieht „großes Entlastungs-Potenzial“.

Milliardenpotenzial statt Milliardenkürzungen

Wie sieht es in der Praxis aussieht, testet beispielsweise die Evangelische Heimstiftung. Sie setzt den sozialen Roboter „Navel“in der Pflege alter Menschen ein. Navel nutzt künstliche Intelligenz und ChatGPT, um mit Menschen zu interagieren. Er kann sich unterhalten und Dinge merken. Sein Einsatz ist Teil eines Pilotprojekts in Zusammenarbeit mit der Münchner Entwicklerfirma Navel Robotics und wird wissenschaftlich vom Institut für Pflege und Alter begleitet. Mit 28 000 Euro kostet so ein Exemplar so viel wie ein Mittelklassewagen, aber nur etwa die Hälfte von dem, was eine Pflegekraft braucht. Zudem arbeitet Navel rund um die Uhr. StiftungschefBernhard Schneider sagt: „Wir sind überzeugt, dass wir soziale Robotik künftig auch in der Pflege und Betreuung einsetzen werden, und wir wollen wissen, was Navel kann und wo es noch Nachholbedarf gibt.“

Das Münchner Start-up Devanthro geht einen anderen Weg: „Robodies“ sind fernbediente Helfer. Eine Pflegekraft steuert sie aus der Ferne, hilft beim Greifen, öffnet Schränke, reicht Dinge, spricht mit der Person – nur eben über einen beweglichen Avatar. „Unser Pflegesystem skaliert nicht. Robodies sind Multiplikatoren für Pflegekräfte“, wirbt das Devanthro Team. In neuen Versuchen zeigen die Geräte, dass sie bei Alltagsschritten wirklich helfen können – bis hin zu Tätigkeiten, die Mensch und Maschine Hand in Hand erledigen.

Einen anderen Zweig treibt das Fraunhofer Institut voran. Mit seinem Elmtex-Projekt hat es bereits eine KI für die Verarbeitung klinischer Dokumentation im Einsatz. „Unser Ziel ist es, eine kosteneffiziente und datenschutzkonforme Lösung bereitzustellen, die es Kliniken ermöglicht, eigene KI-Anwendungen vor Ort zu betreiben, ohne auf teure kommerzielle Dienste angewiesen zu sein“, sagt Projektleiter Carlos Velasco. Klinische Texte stellen besondere Anforderungen an KI-Modelle: Sie enthalten komplexe syntaktische Strukturen, zahlreiche Abkürzungen sowie zeitliche Bezüge zwischen Symptomen und Diagnosen. Das Ziel ist immer das gleiche: Möglichst schon im Gespräch mit den Patienten zeichnet die KI Befund und Therapieverlauf auf und dokumentiert sie selbständig in der Patientenakte. Pflegern und Ärzten wird ein erheblicher Verwaltungsaufwand erspart, der sie oft mehr als zehn Prozent ihrer Arbeitszeit kostet.

Ein Blick in die USA zeigt, wie stark soziale Hilfe per Technik sein kann. Der Staat New York stellt älteren, einsamen Menschen den Begleiter ElliQzur Seite. Nach Angaben der Landesgesundheitsbehörde sank laut einer Umfrage bei den Patienten das Gefühl, einsam zu sein, um 95 Prozent. Die Nutzer sprechen über 30-mal am Tag mit dem System. Behördenchef Greg Olsen schwärmt: „Die Ergebnisse übertreffen unsere Erwartungen.“ Und Firmenchef Dor Skuler erklärt das Ziel schlicht: „Es geht nicht nur um Nutzen. Es geht um Freundschaft, Begleitung und Empathie.“

Was heißt das alles für die große Frage nach Kosten? Global rechnen Fachleute mit erheblichen Einsparungen durch KI – nicht nur, aber auch in der Pflege. Die Berater von McKinsey beziffern das mögliche jährliche Einspar-Potenzial im US-Gesundheitswesen auf bis zu 360 Milliarden Dollar, wenn verfügbare KI-Lösungen breit eingesetzt werden. Bei den Kranken- und Pflegekassen sehen die Berater 13 bis 25 Prozent weniger Verwaltungskosten und 5 bis 11 Prozent weniger medizinische Kosten als erreichbar an. Für Deutschland gibt es in der Pflege noch keine so harte Gesamtsumme. Aber die 29 bis 58 Prozent weniger Wege- und Reaktionszeit aus der Telepflege-Studie lassen ahnen, wo die Reise hingeht: weniger Leerlauf, weniger Doppeldokumentation, weniger vermeidbare Unfälle – das dürfte auch hierzulande Milliarden sparen.

Bleibt die Frage der Moral. Der Deutsche Ethikrat hat es 2020 auf den Punkt gebracht: Roboter können helfen, aber: „Berührung kann man nicht mit Plastik ersetzen“. Im Zentrum müsse das Wohl der Pflegebedürftigen stehen. Die MIT-Forscherin Sherry Turkle warnt seit Jahren, man dürfe die Maschine nicht mit echter Zuwendung verwechseln: Soziale Roboter „scheinen einfühlsam“, aber diese Nähe sei nur gespielt. Das greife unsere Fähigkeit zur Empathie an. Der deutsche Moraltheologe Josef Römelt aus Erfurt kann dem auch etwas Positives abgewinnen: „Manch einer sucht die Anonymität als Schutz gerade der eigenen Intimität, wenn er sich zum Beispiel via Internet beraten oder mithilfe starker Rehahilfen aus dem Bett heben lässt“, sagt er. „Und doch gibt es Situationen, in denen das unmittelbare Gespräch mit einem Gegenüber, in dessen Augen ich schauen kann, und die sensible Berührung durch einen anderen unverzichtbar sind.“