Finance & Freedom „Stuttgart unter Null“ – Wie eine der reichsten Städte Deutschlands in die Finanzkrise rutscht

„Stuttgart unter Null“ – Wie eine der reichsten Städte Deutschlands in die Finanzkrise rutscht


Eine Stadt gesteht öffentlich, dass ihr Geld nicht mehr reicht. Gewerbesteuern brechen ein, Sozialausgaben steigen – und plötzlich wirkt Stuttgart wie ein Fall aus dem Ruhrgebiet der 1970er-Jahre.

Stuttgart wirkt an diesen Morgen vor den Weihnachtsfeiertagen wie immer. Die Straßen sind voll, die Cafés geöffnet, die Stadt funktioniert. Und doch hat sich etwas verschoben. Nicht sichtbar, nicht laut – aber grundlegend: In dem funktionalen Rathaus aus den fünfziger Jahren mit seinem markanten Turm liegen Zahlen auf dem Tisch, die nichts mehr beschönigen. Die Stadt selbst hat die Erkenntnis daraus zusammengefasst und in der vergangenen Woche in einer eigens programmierten Website veröffentlicht, ein bisher einmaliger Vorgang in Deutschland: Nachdem die Stadt ursprünglich geschrieben hatte „Ende 2025 wird die Zahlungsfähigkeit der Landeshauptstadt unter Null liegen“ präzisierte sie ihre Aussage inzwischen und teilt mit: „Die rechnerisch freie Liquidität liegt der Stadt Ende 2025 unter Null“. Es gibt keinen Konjunktiv, keinen rhetorischen Vorbehalt. Es ist ein Satz, der bleibt.

Stuttgart, diese Stadt des Ingenieurstolzes, der Verlässlichkeit, der schwäbischen Haushaltsdisziplin, steht vor einem Defizit von rund 785 Millionen Euro im Jahr 2025. In den Folgejahren drohen weitere tiefrote dreistellige Millionensummen. Die Rücklagen sind aufgebraucht. Die Phase, in der der Kernhaushalt seit 2018 schuldenfrei war, ist vorbei. Was hier passiert, ist jedoch kein Verwaltungsfehler und nur begrenzt kommunales Missmanagement. Es ist vielmehr ein Strukturbruch. Einer, wie ihn Städte wie Dortmund und Essen schon vor Jahrzehnten erlebt haben – wobei das alles Orte sind, von denen die Stuttgarter sich weit weg wähnten.

Stuttgart ist eine Autostadt. Jahrzehntelang war die Automobilindustrie Garant für hohe Gewerbesteuereinnahmen, für Planungssicherheit, für Selbstbewusstsein. Doch diese Gewissheit trägt nicht mehr. Die Stadt selbst spricht von deutlich sinkenden Gewerbesteuereinnahmen aus der Autoindustrie, zu der natürlich auch die Zulieferer gehören. Für 2025 rechnet CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper nur noch mit rund 750 Millionen Euro statt der ursprünglich erwarteten 1,2 Milliarden. Der Umbruch der Automobilindustrie schlägt direkt auf den Stadthaushalt durch.

Dahinter steht, dass die Profitbasis der wichtigsten Steuerzahler eingebrochen ist. Mercedes-Benz, größter Arbeitgeber der Region, meldete für die ersten neun Monate 2025 einen Netto-Gewinnrückgang von rund 50 Prozent– von etwa 7,8 Milliarden auf rund 3,9 Milliarden Euro. Die operativen Gewinne bei Porsche sinken drastisch von mehreren Milliarden auf 40 Millionen Euro. Die Einbrüche sind nicht nur Bilanzzahlen. Sie zeigen, wie schwer der globale Wettbewerb, rückläufige Nachfrage in Schlüsselmärkten wie China und Handelshemmnisse die traditionelle Stärke der Stuttgarter Automobilmarken treffen. Und weil die Gewerbesteuer die wichtigste originäre Einnahmequelle der Stadt ist, wirken sich diese Gewinnrückgänge direkt aufs kommunale Konto aus.

Parallel dazu wächst eine zweite Belastung, leiser, aber ebenso schwer. Die Sozialausgaben steigen. Die Stadt nennt sie selbst als einen der zentralen Kostentreiber. Eingliederungshilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Grundsicherung – und die Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten. Leistungen, die gesetzlich vorgeschrieben sind. Leistungen, bei denen Bund und Land aus Sicht der Stadt nicht ausreichend mitfinanzieren. Ein besonders sichtbares Beispiel ist die Unterbringung von Geflüchteten. Stuttgart weist in seinen Haushaltsunterlagen ausdrücklich darauf hin, dass die Zahl der unterzubringenden Menschen gestiegen ist und damit auch die Ausgaben für Unterkünfte, soziale Betreuung, Sicherheitsdienste und Infrastruktur. Diese Kosten fallen unmittelbar bei der Kommune an. Die Stadt betont zugleich, dass die Erstattungen von Bund und Land die tatsächlichen Aufwendungen nicht vollständig decken. Stuttgart ist damit in der Pflicht, Leistungen umzusetzen, die politisch auf anderen Ebenen entschieden wurden – finanziell jedoch im kommunalen Haushalt landen. So entsteht ein Druck von zwei Seiten, den die Stadt nicht mehr intern auffangen kann.

Im Gemeinderat wird diese Realität zur politischen Zerreißprobe. Oberbürgermeister Nopper versucht, den Kurs zu erklären, ohne die Stadt und ihre Bürger zu Tode zu erschrecken. Keine Vollbremsung, sagt er. Aber eine kontrollierte Bremsung, die alle spüren werden. Was das bedeutet, steht schwarz auf weiß auf der neuen website: Kürzungen bei freiwilligen Leistungen, verschobene Investitionen, weniger Personal, höhere Steuern und Gebühren. Kein Bereich bleibt unberührt. Aus der Opposition kommen mahnende Töne. FDP-Stadtrat Eric Neumann spricht von Katerstimmung und warnt davor, reflexhaft neue Belastungen durch Steuern zu schaffen. Stattdessen fordert er Verzicht. Es ist eine klassische Haushaltsdebatte. Nur dass sie diesmal in einer Stadt geführt wird, die solche Debatten noch nicht kannte.

Und dann ist da noch dieses Projekt, das in Stuttgart mehr ist als ein Bauvorhaben: Stuttgart 21. Während im Haushalt gespart, gestrichen und verschoben wird, steht der Tiefbahnhof weiter für ein Jahrzehnteprojekt, das immer wieder neu terminiert wird. Teileröffnungen, Verzögerungen, neue Zeitpläne. Auch wenn die Stadt nicht Hauptfinanzier ist, verändert sich in Zeiten knapper Kassen der Blick auf Großprojekte. Geduld wird knapper, Vertrauen verschwindet.

Der entscheidende Tag der Haushaltsdebatte, die alles entscheiden soll, rückt unterdessen näher. Am 19. Dezember 2025 will der den nächsten Doppelhaushalt beschließen. Die Sitzung -auch das ist ungewöhnlich –  wird live übertragen. Bis dahin wird gerechnet, gestrichen, verhandelt – öffentlich und nichtöffentlich. Es ist der Moment, in dem aus Zahlen Realität wird. Für die Stuttgarter bedeutet das: spürbare Einschnitte. Weniger Angebote, höhere Gebühren, längere Wartezeiten, verschobene Sanierungen. Die Stadt sagt selbst, dass die Einsparungen im Alltag ankommen werden. Es geht um Kultur, Sport, Freizeit, Verwaltung. Um das, was eine Stadt lebenswert macht. Über allem schwebt ein Szenario, das niemand gern ausspricht. Sollte der Haushalt nicht genehmigt werden, greift die Rechtsaufsicht. Im äußersten Fall könnte ein Beauftragter des Regierungspräsidiums eingesetzt werden, der die Stadt übernimmt. Es wäre ein tiefer Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung.

Stuttgart steht damit nicht allein. Viele Städte in Deutschland geraten unter Druck, auch in bisher wirtschaftsstarken Regionen. Der Deutsche Städtetag warnt vor einer flächendeckenden kommunalen Finanzkrise. Doch Stuttgart ist mehr als ein weiterer Fall. Stuttgart ist ein Symbol. Der Vergleich mit dem Ruhrgebiet drängt sich auf. Vor rund fünfzig Jahren begann dort der Strukturwandel, als Kohle und Stahl ihre Bedeutung verloren. Auch damals traf es Städte, die sich sicher fühlten. Der Wandel kam schleichend, dann mit voller Wucht. In Baden-Württemberg ist es heute die Automobilindustrie, die ihre Gewissheiten verliert. Die Mechanik ist eine andere, die Folgen sind ähnlich.

Vielleicht ist das der eigentliche Kern dieser Geschichte. Nicht die Zahl, nicht das Defizit, sondern das Ende einer Selbstverständlichkeit: Dass Wohlstand bleibt. Dass er schützt. Die Wirklichkeit dagegen sieht so aus: Reichtum ist verletzlich. Und selbst Haushaltsdisziplin reicht nicht aus, wenn sich die Welt schneller verändert als die Einnahmen.