Hilfe, ich bin Nicht-Erbe
Banken, Ökonomen und Politiker widmen sich mit Vorliebe der Generation der Erben. Bei ihnen ist schließlich etwas zu holen. Mehr als die Hälfte der Deutschen erbt jedoch nichts. Wie geht es ihnen eigentlich?
Die offiziellen Zahlen sehen so aus: Jedes Jahr werden in Deutschland gewaltige Summen von einer Generation an die nachfolgende weitergegeben. Allein durch anfallende Erbschafts- oder Schenkungssteuern wurde 2022 ein übertragenes Vermögen im Wert von mehr als 100 Milliarden Euro erfasst, so die Daten des Statistischen Bundesamts. Fast ein Drittel des gesamten Privatvermögens von elf Billionen Euro wurde nicht von den Eigentümern selbst erwirtschaftet, sondern ererbt, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fest.
Allerdings wird das ererbte Vermögen sehr ungleich verteilt: Laut einer aktuellen YouGov-Umfrage hat nur jeder vierte Deutsche geerbt. Der Wert des geerbten Vermögens lag in knapp 27 Prozent der Fälle bei unter 10 000 Euro, knapp 25 Prozent erbten zwischen 10.000 und 50.000 Euro. 13 Prozent der Erbschaften hatten einen Wert jenseits von 250.000 Euro. Deswegen beschäftigten sich Experten und Medien mit dem Scham und den Schuldgefühlen der Erben. So titelte der „Spiegel“ etwa „Viele Erben fühlen sich schuldig“, und die „Bild“ schreibt ihnen mahnend ins Stammbuch: „Erben heißt Verantwortung“. Für Banken, die liebend gerne die Vermögensverwaltung übernehmen, sind Erben eine hervorragende Zielgruppe. „Erbschaft als Altersvorsorge“ heißt eine der jüngeren Studien der Postbank.
Was dabei aus dem Blick gerät, obwohl es der Normalfall ist: Die Mehrheit erbt noch immer nichts – oder fast nichts.Die Konsequenz daraus hat der Soziologe Rudolf Stumberger mit einem fiktiven Fall so beschrieben: Von zwei Freunde mit ähnlichem Lifestyle und gleicher Einkommensklasse erbt einer plötzlich richtig viel Geld. Er denkt über eine Eigentumswohnung in der Innenstadt nach, auf seinem Couchtisch liegen Prospekte für Jachten, vielleicht hört er auch auf zu arbeiten. „Wie fast alle Erfahrungen in unserem Leben geht auch die Erfahrung des Entstehens von sozialer Ungleichheit durch Erbschaft mit Gefühlen einher“, schreibt Stumberger in seinem aktuellen Buch „Wir Nicht-Erben“. Zwar hätten Erben manchmal Schuldgefühle, doch völlig ausgeblendet würden die Gefühle der Nicht-Erben: Resignation, Wut bis hin „zum tiefen Empfinden sozialer Ungerechtigkeit durch die Aushebelung des ja angeblich herrschenden Leistungsprinzips in der Gesellschaft“.
In Interviews beschreibt Schumberger viele solcher Fälle und ihre Folgen: Etwa den der beiden Krankenpfleger, „selber Job, selbes Einkommen, selbe Lebenssituation. Dann erbt einer ein Haus und kann sich plötzlich ganz viel leisten. Waren die beiden vorher noch auf Augenhöhe, entsteht nun eine enorme soziale Kluft. Der Nicht-Erbe wird den Erben nie mehr einholen können, egal wie viele Überstunden er macht oder im Job aufsteigen wird.“ Was dadurch entstehe sei mit „Neid“ aber nicht richtig beschrieben. „Neid verlangt ja nicht nur nach dem Besitztum oder den Fähigkeiten eines anderen, etwa nach dem schönen Auto oder den Klavierspielfähigkeiten – sondern impliziert meist auch etwas Boshaftes, Missgünstiges. Wie die Hoffnung, dass der andere sein Gut wieder verliert, dass es ihm schlecht gehe.“ Dieses Klischee, das Nicht-Erben vor allem solchen Neid empfinden, stimme aber nicht.Der Soziologe kommt zu einem anderen Fazit: Durch Erbe werde „aus sozialer Gleichheit soziale Ungleichheit. Und das in einer Gesellschaft, die von sich behauptet, auf Leistung zu beruhen.“
Ökonom Marcel Fratzscher vom traditionell linken DIW macht noch eine weitere Feststellung: Kinder aus einkommensstarken Familien schafften es deutlich häufiger, einen guten Bildungsabschluss zu erlangen, selbst ein hohes Einkommen zu haben und eigenes Vermögen aufzubauen. Es seien dann auch diese Kinder, die sehr viel häufiger zusätzlich Vermögen erben. Reiche kommen also häufiger in den Genuss hoher Erbschaften als Arme, was soziale Ungleichheiten vergrößere.