Wie in Kiel die Aquakultur der Zukunft entsteht
Die meisten deutschen Miesmuscheln kommen aus der Nordsee. Zehn der elf deutschen Farmen liegen dort. Staufenberger und sein Team sind die Einzigen, die kommerziell in der Ostsee züchten. Und damit nach 130 Jahren eine Tradition wiederbeleben. Denn einst wurden auch in der Kieler Förde industriell Miesmuscheln angebaut. Doch als Kaiser Wilhelm I. zunächst den Nord-Ostsee-Kanal bauen ließ und Kiel anschließend zum Marinestandort machte, verloren die Muschelfarmer erst ihre Anbaugebiete, dann ihre Jobs.
Sie arbeiteten daraufhin bei Bauunternehmen, in Werften oder direkt bei der Marine. Drei bis sieben Jahre dauerte es damals bis zur ersten Muschelernte. Durch den niedrigen Salzgehalt in der Ostsee wachsen sie langsamer und werden nicht so groß wie in der Nordsee. „Diesen Job aus Traditionsbewusstsein nebenbei zu machen, das tat sich irgendwann niemand mehr an“, sagt Staufenberger.
Doch Kiel ist nicht nur Marinestandort, sondern auch Wissenschaftshotspot. Seit dem 19. Jahrhundert laufen hier Forschungsschiffe aus, die Christian-Albrechts-Universität zählt weltweit zu den führenden Adressen in der Meeresforschung, die Vernetzung mit dem Alfred-Wegener-Institut und dem Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung ist hervorragend. Ideale Voraussetzungen für Ideen, die es später in die freie Wirtschaft schaffen. Der Vorgängerbetrieb von Förde Garnelen etwa gründete sich aus einem Wissenschaftsprojekt zur Züchtung von Steinbutt.
Auch die Kieler Meeresfarm entsprang 2014 der Forschung. Diese enge Verzahnung mit der Wissenschaft ist noch immer tragendes Element der Firma. Allerdings anders, als dem Trio lieb ist. 80 Prozent ihrer Zeit und Energie stecken sie in die Arbeit mit den Muscheln. Leinen setzen, kontrollieren, einholen, Muscheln sortieren, die großen verkaufen, die restlichen wieder ins Wasser setzen. Drei Tonnen Muscheln ernten sie pro Jahr, liefern vor allem an Endkunden und Gastronom:innen aus der Region.
Die Firma trage sich zwar selbst, so Staufenberger, doch vom wirtschaftlichen Standpunkt her sei es „totaler Quatsch, was wir hier machen“. Noch kommen lediglich zehn Prozent der Firmenerträge aus dem Muschelverkauf. Den Rest spülen Forschungsaufträge in die Kassen. „So ist das eben, wenn man mit nachhaltigen Modellen Geld verdienen will“, sagt Staufenberger, der am Wochenende regelmäßig bei Ikea arbeitet, um über die Runden zu kommen. In sechs wissenschaftliche Projekte ist das Team derzeit involviert, darunter Versuche zum Bewuchs von Naturmaterialien unter Wasser und zur Anreicherung der Miesmuschel mit bestimmten Proteinen, um daraus später Backtriebmittel oder Salz zu gewinnen.
Ideen hat auch Tim Staufenberger viele. Die neuesten erklärt er anhand zweier kleiner Gewächshäuser, in denen er mit dem Anbau von alten Gemüsesorten experimentiert: Queller, Dreizack-Meerkohl, Strand-Aster und Melde. In ein paar Jahren sollen diese Gewächshäuser nicht mehr am Ufer stehen, sondern auf Pontons über den Muscheln schwimmen. Die Ernte wird an lokale Gastronomen verkauft. Die Vision: ein mehrdimensionales Multi-Use-Konzept. Neben Muscheln auch Algen anbauen und so nicht nur Nährstoffe aus der Ostsee entnehmen, sondern zugleich ein Ökosystem und Habitat für Meeresbewohner schaffen.
Als erster nährstoffneutraler Aquakulturbetrieb in der Ostsee darf die Kieler Meeresfarm zudem stromaufwärts in der Förde eine Fischzucht installieren. Bis die Vorbereitungen dafür abgeschlossen sind, wird es wohl noch mindestens fünf Jahre dauern, schätzt Staufenberger. Sein Blick lässt erahnen, was er von der deutschen Bürokratie hält. Schwierig sei es, gerade beim Umstieg von der Wissenschaft in die freie Wirtschaft. Plötzlich werde alles unendlich komplizierter, langwieriger, aufwendiger.
Wer komplett neue Wege geht und noch nicht gedachte Lösungen sucht, hat es eben selten leicht. Und warum sollte Aquakultur die Ausnahme von der Regel darstellen? Doch abschrecken lassen sich die Macherinnen und Macher dieser drei Vorhaben davon nicht. Die Aussicht darauf, Lösungen zu schaffen, die im besten Fall für eine ganze Branche weltweit funktionieren und freudig aufgenommen werden, dürfte die eine oder andere Nachtschicht befeuern, den erwartbaren Rückschlag verkraften lassen, die Behördengänge erträglicher machen. Auch wenn ihre Herangehensweisen unterschiedlich sind: In Kiel jedenfalls entsteht schon heute die Aquakultur von morgen.

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