Tech & Trends Wissen in Rente: Wie die Industrie ihre Erfahrung verliert

Wissen in Rente: Wie die Industrie ihre Erfahrung verliert

Warum die Industrie ihr Wissen verliert, und was dagegen hilft

Peter geht in Rente. Und Sabine auch. Zwei beispielhafte Namen von Mitarbeitenden, die in deutschen Industriehallen über Jahrzehnte viel bewegt haben. Und zwei der häufigsten Vornamen in der Babyboomer-Generation, also der Menschen, die zwischen 1955 und 1969 geboren wurden. Laut Namensstatistik gehörten Peter und Sabine in diesen Jahrgängen zu den beliebtesten Vornamen. Heute stehen sie symbolisch für einen stillen, aber dramatischen Wandel: den Verlust von Erfahrungswissen.

Denn mit Peter und Sabine geht nicht nur Arbeitskraft. Es geht Erfahrung. Es gehen Abläufe, die nie dokumentiert wurden. Es geht implizites Wissen, das nicht in Systemen hinterlegt ist, sondern in Köpfen, Händen und Gewohnheiten. Und das alles passiert gleichzeitig, überall in Deutschland. Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung werden bis 2036 rund 30 % der heutigen Erwerbstätigen im Alter von 50 bis 64 Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden. In der Industrie bedeutet das: Ein Drittel der Köpfe, und ein erheblicher Teil des Know-hows, verabschiedet sich ohne digitales Backup.

Was bleibt? Papierprozesse. Halbe Erinnerungen. Und Sätze wie:

„Wenn der Peter geht, sind wir hier aufgeschmissen.“

Der Kopf ist das System, und das ist das Problem

Was häufig unterschätzt wird: In vielen Betrieben basiert der Alltag nicht auf durchgängigen Prozessen, sondern auf Gewohnheiten. Menschen wie Peter oder Sabine wissen einfach, wie es geht. Wo die Maschine klemmt. Wie man den Fehler umgeht. Welche Schraube kritisch ist und wann man die Schicht wirklich übergibt.

Das steht selten im ERP-System. Und wenn doch, fehlt der Kontext, und oft die Akzeptanz.

„In vielen Unternehmen wurde jahrelang nur die Kernprozesse zentral digitalisiert, aber nie dezentral gedacht“, sagt Norman Hartmann, Gründer des Softwareunternehmens Workerbase. „Auf dem Shopfloor wurde sich dann beholfen mit Papier, Excel und Co. – so entstand dann oft eine Parallelwelt, vollkommen disconnected.“

Diese Lücke will Hartmann mit seiner Plattform schließen, die Abläufe am Ort der Produktion erfasst und für andere verfügbar macht. Das Prinzip dahinter nennt sich „Connected Worker“, eine Art digitales Gedächtnis für operative Erfahrung.

Zwischen Lösung und Realität

Das System dokumentiert, wo sonst nur Bauchgefühl entscheidet. Welche Probleme auftraten. Welche Lösungen funktionierten. Nicht in Excel, sondern im Moment der Handlung. So sollen Informationen nicht verloren gehen, wenn erfahrene Fachkräfte gehen, sondern bleiben und helfen, Abläufe zu verbessern.

Laut dem Unternehmen liegt der Return on Invest in den meisten Fällen unter einem Jahr. Zu den Kunden zählen nach eigenen Angaben große Namen wie Bosch oder Miele. Doch ob ein solches System auch im Mittelstand funktioniert, mit weniger Ressourcen, weniger Digitalisierung und anderen Ängsten, ist nicht selbstverständlich.

„Die perfekte Lösung aus System-Sicht war für viele Mitarbeitende schlicht unpraktikabel“, sagt Hartmann.

„Wir haben gelernt: Was nicht direkt hilft, wird nicht genutzt.“

Tatsächlich bleibt bei aller Funktionalität ein Risiko: Wenn Menschen den Wandel nicht mitgehen, aus Sorge, ihre Einzigartigkeit werde „abgespeichert“, drohen Widerstände. In manchen Betrieben entsteht eine paradoxe Lage: Der Wunsch, Wissen zu retten, wird als Bedrohung empfunden. Besonders bei Mitarbeitenden, deren Wert jahrelang über Erfahrung und Verlässlichkeit definiert wurde.

Perspektivwechsel für den Mittelstand

Hier wird es auch für kleinere Unternehmen schwierig. Während Konzerne Budget und Prozesse für neue Systeme bereitstellen können, stehen viele Mittelständler vor der Frage: Wie soll das gehen, zwischen Schichtplan, Lieferengpässen und Inflation? Genau hier braucht es pragmatische Ansätze, die ohne große Rollouts funktionieren. Kleine Tools, klare Nutzen, und echte Einbindung.

Denn viele Projekte zur digitalen Wissenssicherung scheitern nicht an der Technik, sondern daran, dass die Mitarbeitenden nicht mitgenommen werden. Oder die Erwartung entsteht, dass Erfahrung durch Software ersetzt werden soll.

„Wir sehen viele Pilotprojekte, die am internen Change scheitern“, sagt Hartmann. „Es hilft nichts, wenn der Prozess smarter wird, aber niemand ihn leben will.“

Vom Reden ins Retten

Die Fakten sind bekannt. Die Lösungen existieren. Was fehlt, ist die Bereitschaft, das Problem ganzheitlich zu sehen: als menschliches, nicht nur als digitales. Wissenssicherung funktioniert nur, wenn sie im Alltag stattfindet. Ohne Überforderung. Und ohne übergroße Erwartungen.

Es geht nicht um schöne Dashboards. Es geht um funktionierende Systeme, auch am Tag nach der Verabschiedung.

Peter geht. Sabine auch.

Die Frage ist: Bleibt ihre Erfahrung? Oder verlässt sie das Werkstor für immer?