Work & Winning Zwei Wochen krank ohne Attest? Wirtschaftsschock oder Effizienzbooster

Zwei Wochen krank ohne Attest? Wirtschaftsschock oder Effizienzbooster

Rheinland-Pfalz‘ Gesundheitsminister fordert radikale Reform: Krankschreibungen erst nach zwei Wochen nötig. Milliardengeschäft Krankschreibung vor dem Umbruch – mit massiven Folgen für Unternehmen und Gesundheitssystem.

116 Millionen Krankschreibungen pro Jahr, Rekordwerte bei Fehltagen und ein Gesundheitssystem am Limit. Jetzt kommt ein Vorschlag, der die Wirtschaft aufhorchen lässt: Der rheinland-pfälzische Gesundheitsminister Clemens Hoch (SPD) will die Attestpflicht radikal lockern. Statt bereits nach drei Tagen sollen Beschäftigte erst nach zwei Wochen zum Arzt müssen. Ein Vorstoß, der weit über bisherige Reformideen hinausgeht und die Wirtschaft polarisiert.

Vertrauensvorschuss statt Bürokratie

Der SPD-Politiker setzt auf einen radikalen Vertrauensvorschuss. „Die Menschen im Land arbeiten hart, engagiert und gerne. Deshalb sollten wir ihnen das nötige Vertrauen im Krankheitsfall entgegenbringen“, begründet Hoch seinen Vorstoß laut „Bild“.

Sein Plan geht deutlich weiter als der Vorschlag von Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der lediglich eine Verschiebung auf den vierten Krankheitstag fordert. Die Zahlen hinter dem Reformdruck sind beachtlich: Wie „Bild“ berichtet, belasten jährlich 116 Millionen Krankschreibungen das System. Eine Verschiebung der Attestpflicht auf den vierten Tag könnte bereits 100 Millionen Euro einsparen. Die Hochrechnung für Hochs Zwei-Wochen-Modell dürfte entsprechend höher ausfallen.

Wirtschaftliche Folgen und Arbeitgebersorgen

Während Ärzte aufatmen könnten, schlagen Arbeitgeber Alarm. Die Krankenstände erreichen bereits jetzt Rekordwerte – die Techniker Krankenkasse meldet 19,1 Krankheitstage pro Versicherten, die DAK sogar 19,7 Tage, wie „Morgenpost“ dokumentiert. Ökonomen warnen vor sinkender Produktivität und steigenden Kosten für Unternehmen.

Die Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) zeigt sich grundsätzlich gesprächsbereit für Systemoptimierungen. Sie betont jedoch die Notwendigkeit einer „austarierten Lösung“, die sowohl Arztpraxen entlastet als auch Arbeitgeberinteressen berücksichtigt. „Wir sollten da beide Interessen im Blick behalten“, erklärt sie laut „Morgenpost“.

Gegenmodell: Der Karenztag

Einen konträren Ansatz vertritt Allianz-Chef Oliver Bäte. Sein Vorschlag: Die Rückkehr zum „Karenztag“ – also keine Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag. Dieses Modell würde Arbeitnehmer bei jeder Krankmeldung einen Tageslohn kosten, könnte aber Kurzabsenzen reduzieren.

Der Vorschlag steht in direktem Widerspruch zu Hochs Vertrauensmodell. Die Debatte offenbart einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Effizienzsteigerung im Gesundheitssystem und Kontrollbedürfnissen der Wirtschaft. Während Hoch zusätzlich eine Entlastung der Krankenkassen um zehn Milliarden Euro durch vollständige Übernahme der Gesundheitskosten für Bürgergeldempfänger fordert, sehen Arbeitgeberverbände die Gefahr steigender Fehlzeiten.

Business Punk Check

Der Vorstoß entlarvt ein Kernproblem der deutschen Wirtschaft: das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber Arbeitnehmern. Während progressive Unternehmen längst auf Vertrauensarbeitszeit und Ergebnisorientierung setzen, klammert sich die Mehrheit an Kontrollmechanismen aus dem letzten Jahrhundert. Die Realität: Länder mit flexibleren Krankschreibungsregeln wie Schweden zeigen keine höheren Fehlzeiten – im Gegenteil.

Der wahre Produktivitätskiller ist nicht der fehlende gelbe Schein, sondern die Präsenzkultur, die Kranke ins Büro zwingt und Infektionswellen verstärkt. Für zukunftsorientierte Unternehmen bietet Hochs Vorschlag die Chance, Vertrauenskultur als Wettbewerbsvorteil zu etablieren und gleichzeitig Gesundheitskosten zu senken. Die entscheidende Frage für Führungskräfte: Traut ihr euren Mitarbeitern zu, selbstverantwortlich zu handeln?

Häufig gestellte Fragen

  • Welche wirtschaftlichen Vorteile bietet eine gelockerte Attestpflicht für Unternehmen?
    Unternehmen profitieren von reduzierten Bürokratiekosten, geringeren Krankenkassenbeiträgen durch Systemeffizienz und potenziell weniger Präsentismus (kranke Mitarbeiter im Büro). Zusätzlich entsteht ein Wettbewerbsvorteil bei der Mitarbeitergewinnung durch progressive Vertrauenskultur.
  • Wie können Unternehmen Missbrauch vorbeugen, wenn die Attestpflicht gelockert wird?
    Statt auf Kontrolle sollten Unternehmen auf Vertrauenskultur mit klaren Kommunikationsregeln setzen. Effektive Maßnahmen sind regelmäßige Check-ins bei längerer Abwesenheit, transparente Team-Dashboards für Arbeitsbelastung und leistungsorientierte statt anwesenheitsorientierte Bewertungssysteme.
  • Welche Branchen würden am stärksten von einer Reform profitieren?
    Besonders wissensbasierte Branchen mit hoher Eigenverantwortung wie IT, Kreativwirtschaft und Beratung könnten profitieren. Gleichzeitig entlastet die Reform das Gesundheitswesen selbst massiv, was Kosteneinsparungen im dreistelligen Millionenbereich ermöglicht.
  • Wie sollten mittelständische Unternehmen ihre Personalpolitik anpassen?
    Mittelständler sollten die Reform als Chance für einen Kulturwandel nutzen: Vertrauensbasierte Führungsmodelle implementieren, digitale Workflows für effiziente Abwesenheitsplanung einführen und Gesundheitsmanagement stärken, um Langzeitausfälle zu reduzieren.
  • Welche internationalen Erfahrungen gibt es mit flexiblen Krankschreibungsmodellen?
    Skandinavische Länder praktizieren seit Jahren flexiblere Modelle mit positiven Ergebnissen. In Schweden können Arbeitnehmer sich bis zu sieben Tage selbst krankschreiben, in Großbritannien bis zu sieben Tage. Die Erfahrungen zeigen keine signifikante Zunahme von Missbrauch, aber deutliche Entlastung des Gesundheitssystems.

Quellen: „Bild“, „Morgenpost“