Leadership & Karriere Im autoritären Weißrussland soll Minsk zum liberalen Startup-Paradies werden

Im autoritären Weißrussland soll Minsk zum liberalen Startup-Paradies werden

Staatliches Korsett

Dennoch kämpft die Branche mit Problemen. Viele Startups wandern ab, sobald sich der Erfolg einstellt. Ins Baltikum, nach London oder gleich in die USA. Zu eng ist das bürokratische Korsett, das der autoritäre Staat unter dem schnauzbärtigen Autokraten Lukaschenko seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Wirtschaft geschnürt hat. Zwar gibt es seit 2005 eine Sonderwirtschaftszone rund um einen Hightech-Park in Minsk, aber davon haben bisher vor allem internationale Outsourcing-Modelle profitiert. Lukaschenko hat seine Karriere noch zu Sowjetzeiten als Kolchos-Bauer gestartet. Und in der Vergangenheit fiel er nicht durch eine besondere Affinität zu IT-Neuerungen auf, wie er schon vor Jahren bei einer Pressekonferenz grummelnd deutlich machte: „Natürlich könnte ich auch mit meinen Fingern auf einem iPhone oder einem iPad herumfummeln, aber das wäre nicht besonders präsidiabel.“

Nun will er immerhin die heimische Techindustrie in Schwung bringen. Ein Ziel seines Dekrets aus dem Dezember ist die staatliche Förderung der Blockchain-Technologie. IT-Gründer werden auf Jahre hin steuerlich begünstigt, was helfen soll, Risikokapital ins Land zu locken. „Wir hoffen, dass unser Land mit diesem Dekret zu einem regionalen Vorreiter im IT-Sektor wird“, sagt Nikolaj Markownik von VP Capital Belarus, der mitgeholfen hat, das Dekret auszuarbeiten.

„Letzter Diktator Europas“

Lukaschenko wird auf seiner Präsidenten-Homepage zitiert: „Belarus wird das erste Land weltweit sein, das die Möglichkeiten für die Blockchain-Technologie öffnet.“

Möglichkeiten und Öffnung sind ansonsten keine Begriffe, die man mit Lukaschenko verbindet. International wird er immer wieder als „letzter Diktator Europas“ geschmäht – und der wolle nun „König der Kryptowährungen“ werden, spottete zuletzt „Bloomberg“. Tatsächlich hat sich der IT-Boom bisher nicht durch den Staat, der noch immer vier Fünftel der Wirtschaft kontrolliert und stark mit Russland verflochten ist, entwickelt. Vielmehr an ihm vorbei. Russland wiederum ist zuletzt durch den niedrigen Ölpreis und die Sanktionen infolge der Krim-Annexion und des Krieges in der Ostukraine in eine Wirtschaftskrise geschlittert.

Lukaschenko, der zwar von russischen Krediten unterstützt wird, aber immer wieder mit dem Kreml-Präsidenten Wladimir Putin im Clinch liegt, kommt da ein bisschen wirtschaftliche Risikostreuung in Richtung Westen ganz gelegen. Zwar macht der IT-Sektor bisher nur rund fünf Prozent des BIP aus, doch bei steigender Tendenz: 2010 lag der Anteil noch weit unter drei Prozent. Bis 2030 sollen die Exporte aus Belarus von bisher 1 Mrd. Dollar auf 4,7 Mrd. Dollar steigen. Die Zahl der im IT-Sektor Beschäftigten könne von 30 000 auf 100 000 zunehmen, hoffen die Autoren des Dekrets.

Wird Minsk also ein Silicon Valley Osteuropas? Arkady Moshes, Belarus-Experte am Finnischen Institut für internationale Beziehungen, ist skeptisch. „Aus meiner Sicht kann nur eine tiefgehende wirtschaftliche Liberalisierung die Grundlage für einen technologischen Durchbruch sein“, sagt er. „Eine beschränkte technologische Modernisierung kann aber auch dann erreicht werden, wenn der Staat viel Geld investiert. Aber das Geld hat Belarus nun mal nicht.“ Als Beispiel nennt Moshes das nahe Moskau geplante Innovationszentrum Skolkowo. Das wurde 2010 von zuständigen ¬Beamten als das „russische Silicon Valley“ angekündigt. Bisher hat Skolkowo aber nur mit Korruptionsskandalen von sich reden gemacht.

Auch die glitzernde Fassade der postsowjetischen Hightech-Wiege Minsk hat eine düstere Rückseite. Abseits der hippen Cafés, wo Craft Beer, Fruchtlimonaden und Eierkuchen mit Ingwer serviert werden, gibt es noch ein anderes Belarus. Das der sowjetischen Militärparaden, der Todesstrafe und des allmächtigen Geheimdienstes, der immer noch KGB heißt. Ein Land der Verbote, Repressionen und Gefängnisse. Oppositionspolitiker werden eingesperrt, Proteste brutal von der Polizei niedergeschlagen, während der Staat immer noch jedes Jahr offiziell die Oktoberrevolution feiert und Lenin als einen Heilsbringer der Geschichte hochhält.

Coden und Denken

Wie frei und demokratisch muss ein Land sein, um in der globalen, vernetzten Wirtschaft zu bestehen? Allzu politische Fragen wie diese weiß Walerija Bobkowa freilich geschickt zu umschiffen. Die 31-Jährige mit kurzen Haaren und brombeerfarbenem Lippenstift hat eine bewegte Vita: studierte Ingenieurin, die jahrelang in einer Werbeagentur gearbeitet hat und zuletzt als Lehrerin tätig war. Doch zwischendurch lässt sie immer wieder Sätze fallen wie: „Zumindest Schulen sollten der Ort sein, wo man seine Gedanken frei ausdrücken kann.“ Oder: „Wer kreativ sein soll, muss auch kritisch denken können.“ Und genau hier hat das belarussische Bildungssystem noch großen Aufholbedarf.

So großen, dass Bobkowa vor einem Jahr das Programm Technoproryw (zu deutsch: Durchbruch der Technik) gegründet hat. Im Sommer 2017 startete sie im staatlichen Jugend- und Kinderpalast in Minsk eine Pilotschule, im Herbst wurde die in den Jahreskalender aufgenommen. Das Programm wird nun mit 150 000 belarussischen Rubel (umgerechnet rund 60 000 Euro) vom Staat unterstützt. So stehen im Kinderpalast nicht mehr nur Stunden in Keramiktöpfern, Astronomie und Musik auf dem Programm, sondern auch Coding, virtuelle Realität, Robotertechnik und Drohnenflüge. „Jeder Mensch sollte die Grundlagen einer Programmiersprache beherrschen“, sagt Bobkowa. „Wir leben nun mal in einer digitalen Welt.“ Mitarbeiter von internationalen Unternehmen wie Epam unterrichten die Kinder in ihrer Freizeit.

Von der Ingenieurin zur Werberin zur Lehrerin: Walerija Bobkowa weiß, wie man über Tellerränder blickt. Foto: Maxim Sarychau

In den langen Gängen hängt zwar noch der Muff der Sowjetzeit. Im Laboratorium, dem sogenannten Fab Lab mit 3D-Druckern, hängt allerdings kein Lenin-Bild mehr an der Wand, sondern ein Holzschnitt mit dem Porträt von Apple-Gründer Steve Jobs. Die Leiterin Alewtina Urban zuckt mit den Schultern: „Natürlich haben wir uns gefragt, ob es angemessen ist, wenn wir ausgerechnet einen Amerikaner in einer belarussischen Bildungseinrichtung aufhängen“, sagt sie. „Aber er ist die Gründerfigur unserer Zeit, und wir müssen nun mal mit der Zeit gehen!“

Das heißt konkret: Die Kinder sollen lernen, sich selbst Projekte auszudenken und auch zu präsentieren – auf Englisch. Eine Schule des freien, kritischen Denkens, so will es Bobkowa. Sie deutet es in den Gesprächen immer wieder an, ohne es direkt auszusprechen. Es ist nicht leicht, ein derart liberales Konzept in einem System zu verankern, in dem Autorität von oben nach unten durchdekliniert wird und das darauf ausgelegt ist, nicht zu viele Fragen zu stellen.

Am Ende läuft es also irgendwie doch wieder auf einen Wettstreit der Systeme hinaus: hier eine kleine, international ausgerichtete und immer selbstbewusstere Szene, die sich am Gründergeist, der Neugierde und der Offenheit des Silicon Valley orientiert. Und um sie herum ein Staat, der vielen als das repressivste System Europas gilt. Noch ist lange nicht entschieden, wer gewinnt. Oder ob überhaupt eine Seite gewinnt. Oder vielleicht beide. Schließlich zeigt das Beispiel China, dass Hightech und Diktatur einander durchaus nicht ausschließen müssen. Nur, so viel ist nach einem Besuch in Minsk klar, das wäre nicht, wofür die Gründer dort arbeiten.

Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe 02/2018. Darin porträtieren wir Lea-Sophie Cramer, Gründerin von Amorelie. Nach der Übernahme durch ProSiebenSat.1 soll sie die Konzerntochter zu einer Lifestylemarke ausbauen. Außerdem: Quiz-App HQ Trivia, Schauspieler Bryan Cranston, DJ-Gott David Guetta und wie immer viele weitere Geschichten. Mehr Infos gibt es hier.

Seite 2 / 2
Vorherige Seite Zur Startseite

Das könnte dich auch interessieren

5 Trends in der Arbeitswelt, die die Führungsrolle vor neue Herausforderungen stellen Leadership & Karriere
5 Trends in der Arbeitswelt, die die Führungsrolle vor neue Herausforderungen stellen
XING-Studie: Was Arbeitnehmende bewegt, ihre Jobs zu wechseln Leadership & Karriere
XING-Studie: Was Arbeitnehmende bewegt, ihre Jobs zu wechseln
Der heimtückische Störenfried – 3 Tipps für Führungskräfte, um Mikroaggressionen im Team zu verhindern Leadership & Karriere
Der heimtückische Störenfried – 3 Tipps für Führungskräfte, um Mikroaggressionen im Team zu verhindern
Stresskiller auf vier Pfoten – 5 Fakten, wieso Hunde im Büro die Arbeitswelt bereichern  Leadership & Karriere
Stresskiller auf vier Pfoten – 5 Fakten, wieso Hunde im Büro die Arbeitswelt bereichern 
Unbeliebte Formulierungen in Stellenanzeigen: Wie Unternehmen potenzielle Talente abschrecken Leadership & Karriere
Unbeliebte Formulierungen in Stellenanzeigen: Wie Unternehmen potenzielle Talente abschrecken