Life & Style Vom Slum nach Harvard und wieder zurück: Der kenianische Rapper Octopizzo will mit anpacken

Vom Slum nach Harvard und wieder zurück: Der kenianische Rapper Octopizzo will mit anpacken

High Noon in Kibera. Es ist Montag und verdammt heiß. Viele Leute sind unterwegs rund um die Olympic Primary School. Schüler*innen rennen aus der Schule. Händler*innen verkaufen Obst, Stoffe, Süßigkeiten.

Henry Ohanga, in der kenianischen Rapszene unter dem Namen Octopizzo bekannt, bahnt sich seinen Weg durch die Menge. Grünes Shirt, neonorangefarbene Hose, passende Schuhe und Socken mit Alienkopf-Muster. Er müsste auffallen mit diesem Outfit. Müsste. Doch die Menge verschluckt den 32-Jährigen, der mit Songs wie „Wakiritho“ und „Noma Ni“ inzwischen weit über Ostafrika hinaus bekannt ist.

Ohanga ist mit einem Freund gekommen. Sie unterhalten sich auf Sheng, eine Mischung aus Englisch und Kiswahili, vor allem von jungen Menschen in den Großstädten Kenias gesprochen. Ein Superstar wie er sollte mit wenigstens einem Bodyguard unterwegs sein. Ohanga nicht. Nicht in Kibera. Er ist hier geboren und aufgewachsen. Das ist seine Hood.

Solidarität im Slum

Kibera galt lange als größter Slum Afrikas. Früher Soldatensiedlung, heute ein Teil von Kenias Hauptstadt Nairobi. Die Häuser dicht gedrängt, die Straßen nicht gepflastert, quer durch die Siedlung führt eine Bahnlinie. Hier leben 600.000 Menschen. Oder eine Million. Oder auch 1,2 Millionen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Ohanga war einer dieser Menschen – und „gäbe es meine Frau und die Kinder nicht, würde ich wieder zurückziehen“, sagt er, während er die Bahngleise entlangläuft.

Spricht er von Kibera, schwingt Sehnsucht in seiner Stimme. Er vermisst die Gemeinschaft, die es in der noblen Wohnanlage nicht gibt, in der er jetzt lebt. „Hier kannst du um drei Uhr morgens bei deinem Nachbarn klopfen, und er wird dir sofort helfen. No questions asked.“ Die Frage, ob er keine Bedenken habe, sich so frei zu bewegen, beantwortet er mit einem Lachen. Er? Angst? Wovor? „Das hier ist der sicherste Ort für mich“, sagt er und zeigt auf das Häusermeer.

Ohanga schlendert durch die Menschen. Bewohner*innen grüßen ihn. Kinder schreien „Octo! Octo!“ Berührungsängste gibt es nicht. Er steuert ein kleines Restaurant an. Die Besitzerin sitzt in der Tür. Sie begrüßt jeden Gast. Ohanga nimmt auf einem der wenigen freien Sitze Platz. Es ist Mittag, die Menschen kommen zum Lunch. Pause. Dann wieder Arbeit. Octo interessiert hier niemanden. Die Leute haben Hunger.

Der Rapper bestellt sich Ugali, einen Maisbrei und Tilapia, einen Fisch. Er kommt schwer in die Gänge: Ohanga war gestern lange wach, um eine Dokumentation auf Netflix über Malcolm X zu bingen. Damit verbringt er seine freie Zeit: Dokus schauen. Ohanga ist wissbegierig.

Sein Leben klingt nach Klischee. Als Teenager verlor er die Eltern. Mit 14 den Vater. Ein Jahr später die Mutter. Die Geschwister zogen zur Großmutter in ein Dorf außerhalb Nairobis. Ohanga hatte darauf keinen Bock. „Ich war jung und verdammt unhöflich. Keiner meiner Verwandten wollte mich aufnehmen.“ Außer einer Tante. Sie zahlte die Schule und ermutigte ihn, sich zum Elektriker ausbilden zu lassen. Bloß nicht auf der Straße landen.

Foto: Kevin Buo / Buoart Media

Ohanga gehörte damals einer Gang an, überfiel Leute, um sich Essen zu kaufen. Keine Zeit, auf die er im Nachhinein stolz ist. Andere Rapper*innen glorifizieren diesen Lifestyle. Ihn mache das wütend. Immerhin hat er Freund*innen an dieses Leben verloren.

Um der Perspektivlosigkeit zu entfliehen, gründete er 2007 ein Gemeindezentrum. Kurz zuvor war ein Kumpel erschossen worden. Octo wollte einen Ort schaffen, an dem er und seine Leute sich sicher fühlen konnten. „Am Anfang hatten wir nur einen CD-Player. Die Leute sind gekommen, um Musik zu hören und ihre Geschichten zu erzählen“, sagt Ohanga. Hier kommt seine Liebe für Freestyle-Rap her. Von morgens bis abends lieferten er und seine Freunde sich Rap-Battles. Andere gründeten Tanzgruppen oder sprühten Graffiti. Der Grundstein für die Arbeit der Octopizzo Foundation und Beginn seiner Rap-Karriere. Vom Hobby zum Beruf war es dann kein großer Schritt.

Der fast normale Ort

Von Anfang an war klar, dass alle Songs einen Bezug zu Kibera haben sollen. „Numba Nane“, was „acht“ auf Kiswahili bedeutet, kommt deshalb oft vor. Die Buslinie acht fährt von Nairobis Innenstadt nach Kibera. Octo, lateinisch für acht, ist sein Künstlername: Octopizzo. Kibera ist bei ihm immer Thema: „Ich drücke das meinen Fans auf, bis sie mich hassen oder lieben. Ich will, dass die Leute neugierig werden und denken: Dieser Typ spricht von Kibera, als sei es London oder das Paradies.“ Mit seinen Liedern wolle er nicht Stereotype von Armut, Kriminalität und Gangsta-Rap bedienen. „Die Leute sollen sehen, dass wir auch im Slum über Lifestyle, Fashion, Mode, Essen und Kultur nachdenken“, sagt er.

In dem Bild, das er von Kibera zeichnet, sollen sich die Menschen vor Ort wiederfinden können. Von außen würde oft vergessen, dass im Slum auch normales Leben stattfinde. „Das Einzige, was im Westen im Fernsehen über Afrika gezeigt wird, sind Tiere, Armut und Kriminalität. Die Leute denken, die Menschen hier würden nur leiden. Da ist kein Platz für das wirkliche Leben“, sagt Octo. Dies zu ändern ist sein Anliegen. Doch nur im ersten Schritt geht es ihm darum, wie Kibera nach außen wirkt. Außerdem will er den Menschen in Kibera ein anderes Gefühl für sich selbst schenken. Sie sollen selbstbewusst auf ihre Herkunft blicken können, trotz aller Probleme.

Jetzt wird das Gespräch dann doch oft unterbrochen: Besucher*innen sprechen Ohanga an. „Unsere Nummer eins“ nennen sie ihn. Er einer von ihnen. Kibera liebt Octopizzo, weil er nie ganz gegangen ist, nicht wie so viele vor ihm. Und er hat Kibera nie verleugnet. „Schon vor mir gab es Leute, die es aus dem Slum herausgeschafft haben. Die kommen bei Celebrity-Partys dann zu mir und gestehen hinter vorgehaltener Hand, dass sie aus Kibera kommen. Niemand möchte mit diesem Ort in Verbindung gebracht werden.“

Sicher, die Verbindung zu Armut und Kriminalität liegt immer nahe. Auch die weitläufige Annahme, dass die Einwohner Kiberas weniger intelligent seien. Selbst ein Universitätsabschluss hilft nur bedingt. Octo erinnert sich: „Ich habe mal mit einer Organisation zusammengearbeitet, deren Wirtschaftsprüfer ich noch aus der Schule kannte. Er bat mich, ihn vor den anderen nicht zu outen.“ Das Argument: Der Prüfer komme aus Kibera, da brauche man nicht so viel – das Gehalt würde vergleichsweise niedrig ausfallen.

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