Life & Style „Jede Sucht hat ihre Vor- und Nachteile“ – Rapper Marteria im Interview

„Jede Sucht hat ihre Vor- und Nachteile“ – Rapper Marteria im Interview

Business School of Rap: Er ist Altmeister im Deutschrap, hat vieles ausprobiert und ist dabei nie beliebig geworden: Marteria, 38, gibt sich die Ehre und erklärt uns, welche Lektionen sich aus seiner Karriere ziehen lassen. Oder besser: aus seinen Karrieren, denn er spielte auch in Jugendnationalmannschaften Fußball und wurde dann international arbeitendes Model. Hier kommen die konkreten Learnings des Rostocker Vielseiters.

• Lehre der See

„Blue Marlin, hab dich mein Leben lang gesucht / Dachte schon die Ozeane sind verflucht“, heißt es im nach dem geheimnisumwobenen Fisch benannten Lied von 2017. Marten Laciny, so Marterias bürgerlicher Name, ist nicht nur Sohn eines Seemanns und wuchs nahe der Küste auf, er angelt heute selber leidenschaftlich gern: „Ich esse nur Fisch, den ich selbst gefangen habe“, sagt er im Gespräch mit Business Punk, gerade zurück von einer Angeltour. Den ersten Fisch habe er schon mit drei gefangen, sagt Marteria. Das Angeln hat ihn bis heute nicht losgelassen.

Genug hat er allerdings von den Petri-Heil-Klischees: „Beim Angeln denken die Leute an was Konservatives, das nur AfD-Opas machen. Aber so ist das nicht. Du musst richtig schnell und präzise reagieren.“ Zumindest beim Raubfischfang auf rauer See, wie er selbst ihn praktiziert. Und das Angeln kann eben auch eine Lektion für Business-Erfolg sein, gar fürs ganze Leben: „Sich ein Ziel setzen, daran arbeiten, das ist wichtig.“ Und das Gefühl, wenn der Blue Marlin (oder auch der Kunde) dann angebissen hat: überwältigend.

Marterias Album „5. Dimension“ ist am 15. Oktober erschienen.

• Lehre der Extreme

„Das mit dem Angeln ist eine Suchtverlagerung“, sagt Marteria heute abgeklärt. Er hat seinem Körper viel zugemutet. Landete vor wenigen Jahren im Krankenhaus: Nierenversagen, sehr ernst. Danach verbannte er Alkohol lange Zeit komplett aus seinem Leben. Und fand im Angeln einen Ausgleich zum Wahnsinn dieser Welt. „Bin ein Lügner, wenn ich sag: ,Nie wieder!‘, vertrag’s nicht mehr wie früher“, heißt es in „Aliens“.

Und als einer, der es wissen muss, fügt er hinzu: „Jede Sucht hat ihre Vor- und Nachteile.“ Der Exzess bleibt trotz allem etwas Verlockendes, Urtümliches, Befreiendes. Oder wie Marteria es in einem Klassiker in Worte fasste: „Ich bin so schön verstrahlt / Ich heb ab zum Mars, 10 000 Grad / Seh 1 000 Farben, bin so schön verstrahlt / Ich denk nicht mehr nach“.

Überhaupt ist das Feiern für ihn eine Kraftquelle geblieben. Die Nacht und das Dunkle sind etwas, das der Mensch immer suchen wird: „Am Feiern mag ich dieses Unberechenbare“, sagt er. „Dass du nicht weißt, was passiert. Du kannst Freunde fürs Leben kennenlernen oder nur für eine Nacht.“

• Lehre des Gestaltwandels

Marteria war nie der Rapper-Rapper, immer ein bisschen eine Kategorie für sich. Er nennt als Einflüsse The Prodigy und Björk. Wieso auf Genres festlegen, wenn man überall Gutes findet? Da gilt es eben, dem eigenen Geschmack zu vertrauen. Marteria schlägt in seinem neuen Album „5. Dimension“ neue Wege ein, es ist sehr elektrolastig. Unter anderem hat er DJ Koze dafür mit ins Boot geholt. Darunter macht er es nicht.

Aber er wechselt nicht nur Genres. Marteria hätte es nicht nur in der Musik schaffen können. Er sammelt Karriereoptionen wie andere Praktika.

So erzählt er, dass er eine vielversprechende Laufbahn als Profifußballer mal eben aus verflogener Leidenschaft beendet habe. Denn wie überall gilt: Was du nur tust, um andere zu beeindrucken, wird dich auf Dauer langweilen.

Marteria ging stattdessen nach New York, wurde dort mit gerade mal 17 Jahren auf der Straße als Model entdeckt. „Meine Mutter musste den Vertrag für mich unterschreiben, ich war ja noch minderjährig“, sagt er. Er fliegt bald um die Welt, ein Leben, das von Partys und Drogen angetrieben wird. „Ich hau ab, geh mit 18 nach Manhattan / Will nur feiern und vom Dach springen auf Tabletten / Denk ich bin ein Star alles dreht sich um mich / Häng an der Bar alles dreht sich um mich“, rappt er in „Endboss“.

Aber auch das ist auf Dauer nicht das Richtige für Marteria. Er lässt die Fashionwelt hinter sich, schreibt sich an der Schauspielschule ein. Dass man ihn als Schauspieler nicht unbedingt in Erinnerung hat, sollte beruhigen. Man kann es ja nicht auf jedem Feld zu Ruhm bringen.

• Lehre des Idealismus

Vor einigen Jahren, in Mailands bestem Club: Marteria war jung und idealistisch, sah einen berühmten Sänger (der Name soll geheim bleiben) ein sehr junges Mädchen anmachen. Und kippte ihm einen Drink über. „Ich war jung und hatte einen starken Sinn für Gerechtigkeit“, erinnert er sich. Ohne großes Nachdenken stürzte er sich mit einem Kumpel auf den internationalen Star – nur um später von der Security vermöbelt zu werden. „Wenn die da oben versagen / In ihren Logen wird die Luft dünn zum Atmen / Lassen uns auf den Straßen nieder / Holen uns unsere Straßen wieder“, rappt Marteria in „Bengalische Tiger“. Er war immer auch ein politischer Rapper. Nicht um Standpunkte verlegen, bereit zur Positionierung. Und eben auch zu handeln.

So auch im Jahr 2018, als es in Chemnitz Aufmärsche und Ausschreitungen gab, die sich gegen Menschen mit Migrationsgeschichte richteten. Marteria trat gemeinsam mit Casper in der Stadt auf, der Eintritt war kostenlos. Und er lud seine Fans ein, ihm zu folgen, „dahin zu kommen, wo es wichtig ist“.

Wenn das nicht wieder eine Parallele zum Wirtschaftsleben ist: Idealismus ist das eine, aber wer nicht dafür einstehen will, kann sich die großen Worte auch sparen. Nicht alle Künstler:innen sind bereit, sich offen zu Antirassismus zu bekennen.

• Lehre des Internationalismus

„Aufgewachsen in der DDR / Reiß die Mauer ein mit meinem Transformer“ (aus „Endboss“). Marten Laciny ist ein Kind des real existierenden Sozialismus. Die DDR hörte auf zu existieren, aber er verbrachte noch als Teenager mehrere Sommer auf Kuba. Er erinnert sich an den Mangel, aber auch daran, dass damals zumindest zwei Dinge auf der Insel funktionierten: Gesundheitswesen und Bildungseinrichtungen. Die sozialistische Nation ist dafür bekannt, dass selbst die Ärmsten in staatlichen Krankenhäusern aufwendige Behandlungen wie Augen-OPs bekommen. Erstaunlich, wenn man die Wirtschaftslage des Landes bedenkt.

Reisen ist bis heute eine der großen Konstanten in Marterias Leben. Er sucht dabei weniger den Luxus teurer Hotels als die Einzigartigkeit von Erlebnissen, verreist viel mit seinem Sohn. Und so sehr ihm auch die Großstadt mit ihren Möglichkeiten, Risiken und Exzessen am Herzen liegt, Marteria sagt: „Ich halte es auf Dauer nicht aus, in der Stadt zu sein, wo du alles kontrollieren kannst. Ich war im Urwald, wo du einfach ständig wachsam sein musst, weil es da riesige Anacondas und winzige Giftspinnen gibt und weil der Urwald für uns als Eindringlinge ein lebensfeindlicher Raum sein kann. Manche finden das vielleicht wahnsinnig. Aber ich brauche es, an krasse Ort zu gehen.“

• Lehre des Postmaterialismus

„Ich will hier weg, weg – Jeden Tag das Gleiche / Der Punk in mir, versteckt hinter Nadelstreifen / Der Tisch gedeckt, mit Porzellan aus Meißen / Vater auf dem Königsstuhl und Mutter am Serviettenfalten“, rappt Marteria in „Verstrahlt“. Er konnte sich schon früh vieles kaufen und genoss den Konsum. Erinnert sich an die Rolex, die er einmal hatte. Die sei dann aber schnell kaputtgegangen. Auffallen wollen, das war ihm lange nicht fremd. „Ich bin früher mit einer grünen G-Klasse durch die Stadt gefahren. Aliengrün!“, sagt er. Diese Zeiten sind aber vorbei, das Auto ist längst wieder verkauft.

Hier schließt sich wiederum der Kreis zum naturverbundenen Angler. Vor einem Jahr kündigte Marteria eine eigene Modekollektion an. An sich nichts Ungewöhnliches. Die Produkte sind aber auch mit dem GOTS-Label zertifiziert. Plastik wird dafür aus dem Meer gefischt und recycelt. Auch die Arbeitsbedingungen müssen bei GOTS Mindeststandards genügen.

Ebenso wie im Business gilt: Wer im Gespräch bleiben will, muss verstehen, wie die Welt sich verändert. Für Marteria ist die Kollektion persönliches Anliegen, immerhin fühlt er sich den Meeren schon immer verbunden. Und zugleich taugt sie als Tribut an die Generation Greta. „Kids treten meine Statue um / Doch mir egal, ich mag die Jungs, Piranhas im Aquarium / Kämpf mit Giftschlangen, Grizzlys, Joko, Klaas / Leoparden, Komodowaranen, und niemand bringt Marten um.“

Unsere exklusive Titel-Story: Die Sanity Group-Gründer Finn Hänsel und Fabian Friede sowie Max Narr, Geschäftsführer des Joint Venture Endosane, wollen den Weltmarkt für Arzneimittel gegen Schizophrenie auf Cannabis-Basis angreifen. Auch im Heft: Rap-Legende Marteria gibt BWL-Nachhilfeunterricht und im Dossier beschäftigen wir uns mit „Moon Shots“. Holt euch die neue Ausgabe gleich am Kiosk oder direkt hier im Abo!

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