Life & Style Gucci-Dämmerung

Gucci-Dämmerung

Das Schlimmste ist dieser Tonfall: Wenn Influencer und ­Fashion Editors in ihre Limousinen fallen, die meist in zweiter oder dritter Reihe parken, um dem Stau zur nächsten Runway-Show zu entfliehen und dieses lang gezogene OMG ertönt: „Oooooh my God! Was war das denn?!“ ­Bei Gucci ist das gerade so

Die Fashion-Crowd liebt es zu lästern, keine Frage. Mailand, Paris, New York, London. Shows im Stundentakt. Der immer gleiche Rhythmus. Reindrängen in die Location. Küsschen links, rechts. Platz in der Front Row einnehmen. 80 bis 100 Designer-Pieces in zehn Minuten mit möglichst coolem Blick registrieren. Videos für Insta und TikTok posten, ein hastiges Backstage Meet & Greet mit Designer und Marketingabteilung, auf dem Weg raus betont beiläufig in Richtung Streetfotografen walken, um vielleicht doch noch auf einem der relevanten Fashion-Blogs unter „Best of “ gelistet zu werden. Und weiter geht’s. Da hilft es, zwischendurch auch mal Dampf aus dem Bügeleisen zu lassen. Aber doch nicht hier. Nicht bei Gucci. Nicht bei dieser Macht und all dem ­Mythos. Schon gar nicht öffentlich. Aber das Undenkbare passiert. Kritik an Gucci kommt auf. Und sie kommt in Mode. „Same, same“, heißt es. Nicht mutig genug. Und mehr noch: Es sei langweilig geworden, zischt es zwischen den abfahrbereiten Shuttles. Und nichts erzürnt Modegötter mehr als Langeweile.

Was ist da los? 

In den Vorsaisons wären derartige Bösartigkeiten noch abgetan worden. So könne nur jemand sprechen, der Gucci nicht verstanden habe. Was durchaus mal passieren konnte. Vor allem in den sieben Jahren, als Alessandro Michele als Chefdesigner im Atelier stand und eine Ära prägte, wie sie das Haus zuletzt bei Tom Ford gesehen hatte. Ein Kreativkraftwerk. Einer, der alle Grenzen und Vorstellungen sprengte. Der bewusst verwirrte, schockierte und inspirierte und das ­schneiderte, was man „Gender Fluidity“ nannte – wenn sich Geschlechter-Stereotypen verflüssigen. Männermodels, die so selbstverständlich in Frauenkleidern über den Laufsteg gingen, dass sich einige schon besorgt fragten, ob sie denn auch so morgen ins Büro gehen sollten. Wenn Alessandro es vorgegeben hätte: Sie hätten es womöglich getan. Er war der Messias – und alle wollten ihm folgen.

Alles war irgendwie Gucci

Seine Fashion-Shows wirkten wie der Gegenentwurf zum Kommerz, sie waren mehr Kunst und Kultur. Intellektuell schwerer als die Stofflagen seiner Kollektionen. Mal Theater, mal große Oper. Immer Erlebnis, Emotion. Sein Anspruch war es nie, verstanden zu werden. Und alle konnten damit leben. Kritik? Wozu denn? Gucci ­lieferte Visionen für eine komplizierter werdende Welt. Alles ­fühlte sich irgendwie Gucci an. Es war mehr als nur eine Marke, es war ein Movement. Maximalistische ­Designs. Die große Übertreibung. Fantasie-Fashion. Alessandro Michele stickte Bienen auf die Gucci-Sneaker und jeder wollte sie für 450 Euro kaufen. Fashion-Lover, Rapper, am Ende sogar Zahnarzthelferinnen. Ob in der Maximilianstraße in München oder in Berlin-Neukölln: Das Gucci-Logo konnte gar nicht groß genug sein.

Diversity, Inclusivity. Alessandro war alles und konnte alles sein. Mensch und Mission ineinandergenäht. Der Fashion-Prediger von Gucci designte mit Juwelen am Finger sein eigenes Kleiderreich. Dass er mit seinem Last-Supper-Look zunehmend Ähnlichkeit mit Jesus entwickelte, mit seinen länger werdenden Haaren und dem schmalen Bart, fiel auf, wurde aber als Teil seines ­Personal Branding akzeptiert. Die Modejünger beteten ihn an. Harry Styles, so schien es, könne ohne Gucci gar nicht mehr singen. Hollywood-Star Jared Leto, der coole Joker aus dem „Suicide Squad“, spielte privat sogar den Doppelgänger von Alessandro ­Michele. Wie ein Zwillingsbruder wandelte er bei der berühmten Met Gala in New York Arm in Arm mit dem Designer über den roten Teppich. Gucci-Mania total. Auch vom Business Case. Die Skalierung: unfassbar. Als Alessandro Michele 2015 als Chefdesigner anfing, zählten sie 3,8 Milliarden Euro Jahresumsatz. Er pushte ihn auf über 10,5 Milliarden Euro. Ein wahr gewordenes Modemärchen. Aber Gucci wäre nicht Gucci, wenn es nicht immer auch etwas Drama bräuchte oder sogar einen Königsmord, wie er in der Tradition des Hauses steht.

Erschossen auf der Treppe

Das legendäre House of Gucci, 1921 in Florenz gegründet als kleine Werkstatt für Lederwaren und Gepäck. Liebe, Intrigen, Mord: Die Gucci-Familie hat nichts ausgelassen. Als Maurizio Gucci, Enkel des Firmengründers und Sattlermeisters Guccio Gucci, am 27. März 1995 in sein Büro in der Via Palestro in Mailand ging, wurde er auf den Treppenstufen erschossen. Drei Kugeln trafen den 46-Jährigen in den Rücken, eine in den Kopf. Es war ein Auftragskiller. Angeheuert von seiner Ex-Frau Patrizia, die so verhindern wollte, dass er eine andere heiratet. Sie verbüßte 18 Jahre im Gefängnis. Im Oktober 2016 wurde sie vorzeitig entlassen. Regisseur Ridley Scott hat das Drama mit Lady Gaga, Adam Driver und Al Pacino in den Hauptrollen sehr treffend verfilmt. Nur die größten Stars für Gucci. Nur großes Kino wieder mal. Der Karrieretod traf Alessandro Michele trotz aller künstlerischen Weitsicht unvorbereitet. Friendly Fire in der Fashion. Sein eigener Entdecker schubste ihn aus dem Mode-Olymp. Marco Bizzarri, President und CEO von Gucci. Selbst eine imposante Erscheinung. Mit 1,95 Metern so groß, dass man bei den Shows nie hinter ihm sitzen wollte und später beim Cocktail zu ihm immer etwas aufschauen musste, was ihm durchaus gefiel. Sein Style: Glatze, markante Hornbrille und Gucci-Anzug mit allen Mustern, die das Atelier hergibt. Er hatte davor Stella McCartney und Bottega Veneta verantwortet. Also einer, der sich mit Fashion durchaus auskennt. Als er ins House of Gucci einzog, traf er auf den Römer Michele. Bizzarri sah in ihm etwas, das zuvor niemand gesehen hatte. Der Beginn eines einzigartigen Hypes.

Der Meister ist Geschichte

Dass das alles im November 2022 zu Ende sein sollte, schockte die Modewelt bis tief in die Hosentaschen. Der Umsatz-Verdreifacher einfach weg? Doch Gucci verlangt eben mehr. Genau genommen die Kering Group, das Luxuskonglomerat von François-Henri Pinault, zu dem neben ­Balenciaga und Saint Laurent eben auch Gucci gehört, das für 50 Prozent des Umsatzes steht. Warum sollten bei Gucci nicht auch 15 Milliarden Umsatz möglich sein? Oder gar 20? „Ich wollte ein breites Publikum von Luxuskonsumenten ansprechen, das wir bisher nicht angesprochen haben“, ließ sich Konzernchef Pinault zitieren. Michele war Geschichte. Der Druck lastet jetzt auf Sabato De Sarno. Sabato, wer? Das fragen sich einige in der Fashion-Szene. Er ist der neue Kreativdirektor von Gucci. Er hatte schon mal bei Dolce & ­Gabbana gearbeitet, ja, und auch bei Valentino. Aber nie in einer führenden Rolle. Und jetzt soll er ein Haus wie Gucci leiten, das Epizentrum der Mode?

Ein typischer Bizzarri-Move, beschwichtigten einige Beobachter. Aber schon die Ernennung ­wirkte, als wollte er seinen Alessandro-Michele-Trick nur noch einmal wiederholen und wieder ein Design-Genie aus dem Nichts herbeizaubern. Aber Fashion ist nun mal keine Mathematik. Der macht- und modebewusste CEO hat sich verrechnet. Der Königsmord killte am Ende auch seinen Job. Sechs Monate später wurde der große Bizzarri selbst kleingemacht und gefeuert. Das ist die Gucci-Dämmerung. Alle schillernden Köpfe weg. Und der Fashion-Zirkus hat keine Zeit zu warten. Er zieht gnadenlos weiter. Immer dahin, wo das ­hotteste Ticket auf dem Markt ist. Und das ist zurzeit: Louis Vuitton. Denn nach dem frühen Krebstod von Chefdesigner Virgil Abloh ist es LVMH, dem größten Luxuskonzern der Welt, gelungen, was Gucci versäumte. Einen echten Scoop zu landen und Pharrell Williams als neuen Kreativdirektor zu verpflichten. Pharrell, der Superstar, die Hip-Hop-Ikone, Musikgenie. 15 Millionen Follower auf Instagram. Kopf und Mastermind der Streetwear Culture gegen Gucci. Ein ungleiches Duell.

Umso mehr bemüht sich die Marketingarmee von Gucci um Schadensbegrenzung. Vor der ersten Fashion-Show von Sabato De Sarno wird es nicht reichen, dass er seine Premiere bei Instagram ankündigt, wissen sie. Schließlich hat er mit 205.000 Followern so wenige, wie bei Pharrell hinterm Komma stehen. Und so werden in Mailand ganze Hauswände und Straßenbahnen bemalt mit der Botschaft, dass ­Sabato jetzt ein neues Gucci präsentieren werde. „Gucci Ancora“ soll es heißen. Was übersetzt so viel bedeutet wie „noch einmal.“ Oder „mehr davon“.

Sabato kreierte dafür eine neue Farbe. Als „Ancora Red“ wird sie beworben, ein Bordeauxrot. Seine Ideen präsentiert er in einer renovierten Industriehalle, von denen es Dutzende in Mailand gibt. Für die Men’s Fashion Show geht es ins ehemalige Eisenwerk Fonderia Carlo Macchi im Norden der Stadt. Die Models defilieren um einen rechteckigen Lichtpfad herum, sie tragen knöchellange Mäntel und Halsketten, die wie Krawatten aussehen, dazu erklingt Dance-Pop von Mark Ronsons „Late Night Prelude“. Der Sänger selbst ist in der ersten Reihe. Im Publikum sitzt Schauspieler Idris Elba und etliche K-Pop-Sänger sind da. Ein Setting wie schon bei seiner Women’s Collection Monate zuvor. Und genau da beginnt das Getuschel. Zu viel von dem, was sie „Ancora“ nennen. „Noch mal …“ Warum denn noch mal? Hätte sie sich nicht wenigstens einen anderen Ablauf ausdenken können? Und die Designs: Sie wirken berechenbar, als wären sie in einer Excel-Tabelle entworfen worden. Und überhaupt: Wo sind denn all die großen Namen hin? Pharrell Williams, so scheint es, hat sie aufgesogen.

Louis Vuitton gewinnt

Für seine Premiere ging er auf die Pont Neuf in Paris. Louis Vuitton ließ die älteste Brücke der Stadt sperren und baute den größten Laufsteg der Welt. Alle sollten zuschauen können. Eine Machtdemonstration, ein Manifest der Mode. In der Front Row: Beyoncé, Jay-Z, Rihanna, A$AP Rocky, LeBron James, Lewis Hamilton. Alles Pharrell Freunde eben. Und Gucci? Geht in eine Mailänder Lagerhalle. Sabato spricht. Pharrell singt bei jeder Show. Als Erstes gleich mal mit Jay-Z. Es ist Fashion-Entertainment. Größer könnte der Unterschied nicht sein. Der Gucci-Designer beschäftigt sich mit Farbe, Pharrell mit Rassismus und unrechtmäßiger Aneignung von Kulturen. Bei den Schauen in Paris interpretiert er die Fashion der amerikanischen Ureinwohner neu dafür. Er selbst kommt aus Virginia. „Paris Virginia“ steht in flammend roten Buchstaben auf einem Gerüst, wie man es von Rodeos kennt vor der Fondation Louis Vuitton. Die Schlangen vor der Tür: kilometerlang. Sabato sagt: „Ich möchte die Herzen der Menschen berühren.“ Pharrell will in ihre Köpfe und eine Cultural Brand erschaffen. Als er ein Foto von sich mit Cowboyhut postet, dreht seine Instagram-Community durch. 15 Millionen Follower bedeuten für Louis Vuitton eben auch 15 Millionen neue Fans der Marke. Und was macht Gucci? Löscht auf seinen Social-Media-Kanälen (52 Millionen Follower) alle Fotos von Alessandro Michele. Als solle nichts mehr an ihn erinnern. Aber es verschwindet auch der Hype. Die Umsatzzahlen fallen. Schon unter „zehn“ Milliarden.

Und Alessandro Michele? Der kennt die Macht der Bilder. Er postet seinen 1,2 Millionen Followern in den letzten Wochen verstärkt Fotos von Skulpturen, die er entdeckt, oder Schmuckstücken, an denen er offenbar Gefallen fand. Ein Foto zeigt ihn, wie er mit weißem T-Shirt in einem Korbstuhl lehnt. Dahinter: Harry Styles, der ihm die Hand auf die Schulter legt. Als wolle er manifestieren, wie die Stars zu ihm stehen. Die spannende Frage in der Fashion-Welt: Was macht Alessandro Michele als Nächstes? Wo auch immer er als neuer Kreativdirektor unter Vertrag kommt: Es wird nicht gut für Gucci.

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