Life & Style „Meinen Lebensunterhalt mit etwas zu verdienen, das ich liebe, ist der wahre Erfolg“

„Meinen Lebensunterhalt mit etwas zu verdienen, das ich liebe, ist der wahre Erfolg“

von Patrick Heidmann

Berühmt wurde sie im Jahr 2000 mit dem Comic „Persepolis“, einer Erzählung der persönlichen Erinnerungen der Autorin an die Islamische Revolution im Iran. Satrapi, 50, lebt und arbeitet seit Ende der 90er in Paris.

Frau Satrapi, beginnen wir mit einer naheliegenden Frage: Hatten Sie irgendeinen Bezug zu Marie Curie, bevor Sie Ihren neuen Film „Marie Curie – Elemente des Lebens“ drehten?

Den hatte ich in der Tat, denn ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, die unbedingt wollte, dass ich eine selbstständige, unabhängige Frau werde. Ich hatte dabei zwei Vorbilder: Eines war Simone de Beauvoir, das andere tatsächlich Marie Curie. Schon von meiner Kindheit an interessierten mich beide Frauen, und weil ich in der Schule sehr gut in den naturwissenschaftlichen Fächern war, legte mir meine Mutter Curie und deren Lebensgeschichte immer ganz besonders ans Herz. Das heißt nun allerdings nicht, dass ich unbedingt darauf gewartet hätte, einen Film über sie zu drehen.

Warum nicht?

Schon allein weil es bereits allerlei über sie gibt, Filme, Serien, Dokumentationen. Was wirklich mein Interesse weckte, war die Tatsache, dass dieses Projekt den Titel „Radioactive“ trug. Da ahnte ich gleich, dass es hier um mehr geht als um ein gewöhnliches Biopic, was mich kein bisschen interessiert hätte. Und tatsächlich war das Drehbuch dann so unkonventionell und gewagt und mit all seinen verschiedenen Elementen so schwierig umzusetzen, dass ich der Herausforderung nicht widerstehen konnte.

Als jemand, der selbst mit Graphic Novels berühmt wurde, muss es Sie gereizt haben, dass auch hier eine als Vorlage galt, oder?

Ehrlich gesagt, wusste ich das anfangs gar nicht. Ich kannte das Buch „Radioactive: Marie & Pierre Curie, A Tale of Love and Fallout“ von Lauren Redniss gar nicht. Erst zwei Monate, nachdem ich das Drehbuch gelesen hatte, stieß mich jemand auf die Vorlage, die mir gut gefiel. Redniss’ Bilder passen ganz wunderbar in eine Graphic Novel, fürs Kino allerdings gar nicht. Was wir adaptiert haben, waren also ihre Worte.

Lassen Sie uns noch kurz bei Curie und gerne auch Simone de Beauvoir bleiben. Was genau war es denn, das diese Frauen zu Ihren Vorbildern machte?

Beide kamen in ihrem Leben an einen Punkt, wo sie sich gesagt haben: Scheiß drauf, mir doch egal, dass ich eine Frau bin, ich mache trotzdem, was ich will. Sich nicht dadurch definieren zu lassen, eine Frau zu sein – das hat mich früh geprägt. So bin ich auch erzogen worden. Ich habe nie zu hören bekommen, dass ich dieses oder jenes als Mädchen nicht könne, dürfe oder solle. Mein Selbstverständnis war einfach: Ich bin ein Mensch, ich mache mein Ding. Dass unsere Gesellschaft das insgesamt tatsächlich anders sieht, habe ich erst viel später realisiert.

Sind Sie manchmal davon irritiert, dass es im Jahr 2020 noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, als Frau tun und lassen zu dürfen, was man will?

Was heißt irritiert? Ich weiß ja, wie es läuft, wir machen nicht kontinuierlich gesellschaftliche Fortschritte. Auf alle drei Schritte nach vorne kommen mindestens zwei zurück. Denken Sie nur an das Thema Abtreibung! In den Achtzigerjahren war es quasi Konsens, dass Frauen das Recht haben, darüber selbst zu entscheiden. Heute wird das überall wieder angezweifelt, teilweise sogar wieder verboten. Obwohl es um unsere eigenen Körper geht! Zu denken, wir müssten 2020 doch so und so weit sein, ist also leider Unsinn. Und tatsächlich war das schon immer so.

Marie Curies Tochter Irène, die selbst Wissenschaftlerin wurde, hatte es in den 1930er- und 1940er-Jahren zum Beispiel beruflich gesehen als Frau viel schwerer als ihre Mutter 30 Jahre vorher. Und das 18. Jahrhundert war für Frauen viel fortschrittlicher als das 19., wo plötzlich das Thema Mutterschaft als Konzept erfunden wurde und Frauen zurück an den Herd geschickt wurden. Wie wir es auch drehen und wenden: 5000 Jahre patriarchaler Kultur lassen sich nicht mal eben in 50 Jahren auf den Kopf stellen.

Sie haben eben schon gesagt, dass Sie sich dagegen sträuben, sich von Ihrem Frau-sein definieren zu lassen. In vielen Diskussionen, die dieser Tage geführt werden, wird allerdings genau das oft getan. Wenn etwa im Zuge der Oscar-Verleihung oder bei Filmfestivals wie der Berlinale gezählt wird, wie viele Filme von Frauen inszeniert wurden und wie viele von Männern – ist das nicht ein wichtiger Ansatz?

Die Sache, um die es geht, ist selbstverständlich wichtig, aber den Ansatz halte ich für falsch. Damit schreiben wir das Problem eher fort und ghettoisieren uns als Frauen erst recht. Ich wollte zum Beispiel mit meiner Arbeit nie bei einem Frauenfestival vertreten sein, weder mit meinen Büchern noch mit meinen Filmen. Damit zwängen wir uns nur unnötig in Nischen, aus denen wir doch eigentlich ausbrechen wollen – und tun so, als würden Frauen per se andere Filme drehen als Männer. Aber wenn dem so ist, drehen dann auch Schwarze andere Filme als Weiße, Schwule andere als Heteros?

Keine leichte Situation: Weitermachen wie immer geht nicht. Aber wenn das Thema nicht auf den Tisch kommt, ändert sich auch nichts.

Natürlich. Ich sage ja auch gar nicht, dass sich nichts ändern muss. Im Gegenteil. In Hollywood weigerte man sich bis vor Kurzem, Frauen auf dem Regiestuhl mit Projekten zu betrauen, die ein hohes Budget hatten. Einfach weil man davon ausging, dass Frauen damit nicht umgehen können, was natürlich völliger Quatsch ist. Ich muss mir nur Zocker angucken: Die wenigsten Frauen würden so weit gehen, ihr Haus zu verspielen, was Männern offensichtlich immer wieder passiert. Als Boss eines großen Filmstudios wäre mir also deutlich wohler, eine Regisseurin würde meine teure Produktion verantworten…

Aber was ich eigentlich sagen will: Jetzt immer nur auf die Frauen zu gucken und alle großen Filme von Frauen inszenieren zu lassen ist auch nicht der richtige Ansatz. Wir brauchen ein Gleichgewicht, eine Selbstverständlichkeit. Denn wenn ich einen Film gucke, sollte es darum gehen, ob er gut ist, nicht darum, wer ihn gemacht hat.

Das ist natürlich der Idealfall. Aber vermutlich ist es auch kein Zufall, dass Sie vorhin Marie Curie und Simone de Beauvoir als Vorbilder nannten, also eben bewusst zwei Frauen.

Wäre Marie Curie Mario Curie gewesen, wäre es für mich nicht weniger inspirierend gewesen. Denn mehr als um ihr Frausein geht es für mich ja um ihre Besessenheit, ihre Leidenschaft, ihre Expertise, ihre Entdeckungen. Klar, dass sie genau wie ich eine Frau ist und aus einem anderen Land nach Frankreich gekommen ist, hat mich womöglich auch angesprochen. Aber so simpel wie „Als Frau identifiziere ich mich mit Frauen“ ist es eben nicht.

Eines der besten Frauenporträts in der Weltliteratur ist „Madame Bovary“ und stammt von Gustave Flaubert, der in seinem Leben noch nicht einmal viel Kontakt mit Frauen hatte. Gleichzeitig gibt es viele Arbeiten weiblicher Künstlerinnen, mit denen ich rein gar nichts anfangen kann.

©Studiocanal GmbH / Laurie Sparham

Mir ging es eher darum, was im Englischen mit dem Spruch „You have to see it to be it“ beschrieben wird. Man muss seinesgleichen repräsentiert sehen. Und es hilft zu wissen, dass andere einen bestimmten Weg schon gegangen sind, um ihn selber auch zu gehen.

Da widerspreche ich nicht. In dieser Hinsicht sind Vorbilder ohne Frage wichtig. Erst 2019 habe ich in einer Studie gelesen, dass Kinder bis zum Alter von sieben Jahren sich prinzipiell zutrauen, Genies zu werden. Danach sind es tatsächlich praktisch nur noch Jungs, die das von sich behaupten. Mädchen ziehen das dann gar nicht mehr in Betracht. Ist das nicht tragisch? Und das, obwohl es ja kein Geheimnis mehr ist, wie viele Mädchen besonders begabt sind für Mathematik und Naturwissenschaften.

Aber wir als Gesellschaft bringen ihnen von klein auf bei, dass sie hübsch sein, einen Mann finden und Kinder bekommen müssen. Sogar wenn wir erfolgreich Karriere machen, haben wir bitte auch diese Kriterien zu erfüllen. Insofern gebe ich Ihnen schon recht: Wir brauchen tolle Frauen als Vorbilder, die zeigen, dass es anders geht.

So wie Sie selbst! Wie gefällt Ihnen der Gedanke, selbst jungen Menschen als Rollenvorbild zu dienen?

Oh Gott, wer mir nacheifert, weiß nicht, was er oder sie tut. Aber im Ernst: Wenn man sieht, dass ein anderer Mensch etwas geschafft hat, dann kommt einem in den Sinn, dass man das auch selber schaffen kann. Mit dem Wort Vorbild kann ich in Bezug auf mich selbst nicht so viel anfangen. Aber ich lebe gerne vor, was alles menschenmöglich ist.

Sie wirken sehr selbstsicher. Muss man das sein, um seinen eigenen Weg zu gehen, wie Sie es getan haben?

Puh, ich weiß gar nicht, ob ich wirklich so selbstsicher bin. Aber was ich in meinem Leben gelernt habe, ist, furchtlos zu sein. Keine Angst zu haben bedeutet für mich echte Freiheit. Furcht ist uns ja angeboren, das ist etwas Instinktives. Doch ich habe mich ihr immer wieder gestellt, mich da­rüber hinweggesetzt und gelernt, sie auszuschalten. Vielleicht wirkt das nach außen selbstsicher?

©Studiocanal GmbH / Laurie Sparham

Wann immer ich vor schwierigen Entscheidungen stehe, stelle ich mir jedenfalls zwei Fragen: Werde ich sterben, wenn ich das jetzt tue? Und: Komme ich dafür ins Gefängnis? Wenn beide Antworten „nein“ lauten, gibt es für mich keinen Grund mehr, etwas nicht zu machen.

Das Scheitern kann Sie nicht schrecken?

Im Gegenteil! Es gibt nichts Wichtigeres als zu scheitern und zu lernen, wie man damit umgeht. Wer immer nur macht, was er eh kann, lernt ja nichts dazu. Mir ist es auch noch nie darum gegangen, einen Gipfel zu erreichen oder irgendwie anzukommen, denn von dort geht es ja nur noch abwärts. Die Spitze kann als Ideal dienen, als Wegweiser, aber besser nicht als Endziel. Wahrscheinlich hat es mir auch deswegen nie etwas ausgemacht, zu scheitern, weil es mir nie wichtig war, erfolgreich zu sein.

Meinen Lebensunterhalt mit etwas zu verdienen, das ich liebe, das ist der wahre Erfolg, denn 95 Prozent aller Menschen müssen jeden Tag einem Job nachgehen, den sie hassen. Dass ich nicht in so einer Situation bin, ist ein riesiges Glück. Wenn dann auch noch ein Projekt erfolgreich ist oder gefeiert wird, ist das natürlich ein nettes Sahnehäubchen. Aber ich bräuchte es nicht, denn ich habe ja schon den Kuchen darunter!

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