Leadership & Karriere Reality Check: Keine Angst vor künstlicher Intelligenz!

Reality Check: Keine Angst vor künstlicher Intelligenz!

Seien wir doch mal ehrlich: Die Menschheit hat keine Chance! Maschinen besiegen uns bereits in Brettspielen wie Schach, sie können sicherer Auto fahren als wir, schneller rechnen und stellen Zusammenhänge her, von denen wir nicht einmal wussten, dass sie existieren. Es kann nicht mehr lange dauern, dann überwacht Big Brother unser Leben, ein Computer bestimmt über unseren Alltag. Gesichtserkennung und Sprachassistenten sind doch nur die Vorstufen zur Machtübernahme der Maschinen!

Das sind die üblichen Reflexe des Menschen auf technische Fortschritte – insbesondere beim Thema der künstlichen Intelligenz zeichnen wir Horrorszenarien. Nur: Wird das wirklich so kommen, oder gibt es auch Perspektiven, die uns erlauben, einer Zukunft mit KI positiver entgegenzusehen?

Richard Socher, Chef-Forscher für künstliche Intelligenz beim Software Unternehmen Salesforce, wählt den optimistischen Ansatz. Der gebürtige Dresdner hat an der amerikanischen Elite-Uni Stanford promoviert – und dabei übrigens im sagenumwobenen Büro 221 gearbeitet, in dem einst die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin forschten. 2014 gründete er „Metamind“ und verkaufte es zwei Jahre später an Salesforce. Innerhalb des Unternehmens erforscht er nun die Anwendung von KI in der Praxis. Zeit für einen Reality-Check mit einem, der das Thema in allen Details kennt.

Herr Socher, Sie haben den schönen Satz gesagt: „Künstliche Intelligenz zeigt uns, wer wir wirklich sind.“ Also: Wer sind wir?

Grundsätzlich müssen wir uns fragen: Was macht den Menschen aus? Ein Punkt, durch den wir uns gern von anderen Arten abgrenzen, ist Intelligenz: Das klingt sehr spezifisch, aber da schließen sich viele Fragen an, was das überhaupt ist. Da verhilft uns die künstliche Intelligenz zu interessanten Erkenntnissen.

Richard Socher (36) gilt als Star der künstlichen Intelligenz und ist Chef-Forscher des Software-Konzerns Salesforce mit Sitz in San Franciso, Kalifornien. (Foto: Jeremy Jackson)

Welchen zum Beispiel?

Wir stellen plötzlich fest, dass Aufgaben, die wir für simpel halten, sehr kompliziert sein können und dass vermeintlich komplizierte Tätigkeiten relativ einfach sind. Nehmen wir Schachspielen: Das ist für Computer eher leicht zu lernen. Der Job von Putzpersonal dagegen ist unglaublich schwierig zu automatisieren. Da steckt viel abstraktes und konkretes Wissen drin, das miteinander verknüpft werden muss: Wie schafft man so Ordnung, dass es Sinn ergibt?

Was kann eine Maschine heute schon besser?

Aufgaben, die sich wiederholen, zum Beispiel die Analyse von Bildern in der Radiologie. Und die Auswertung sehr großer Datensätze. Es gibt bei Salesforce ein sogenanntes Lead & Opportunity Scoring: Das hilft Vertriebler*innen, die eine lange Liste von Kund*innen haben. Wen sollen sie als Erstes anrufen? Wenn eine künstliche Intelligenz die Nachrichten aus der Branche verfolgt – ob es zum Beispiel einen neuen Abteilungsleiter gibt –, bereits gesendete E-Mails überprüft und externe Daten einbezieht, dann kann sie voraussagen: Das sind heute die zehn Leute, die am meisten daran interessiert sind, das Produkt zu kaufen. Das führt dazu, dass Verkäufer*innen 30 Prozent effizienter sind.

Es verletzt aber womöglich den Stolz der Verkäufer*innen.

Klar, es ist wichtig, ihnen schlüssig zu erklären, warum sie diese Leute anrufen sollten, nur dann vertraut er der Analyse.

Meilensteine in künstlicher Intelligenz haben oft mit Spielen zu tun: Schach, Pokern, das Strategie-Brettspiel Go. Wäre es nicht interessanter, mehr Aufmerksamkeit auf ihre Anwendungen im Alltag zu richten?

Das ist ganz genau mein Ansatz. Klar war das ein Riesending, als der Computer in Go gewonnen hat, und es hat auch die Art und Weise beeinflusst, wie die Leute spielen. Außerhalb der Spielwelt hat sich durch diese Applikation allerdings eher wenig verändert. Algorithmen in Spielen sind selten hilfreich in der echten Welt, wo nicht alles so schön angeordnet ist wie auf einem Spielbrett. Es gibt sehr viele Unsicherheiten, der Zufall spielt eine genauso gewaltige Rolle wie das Berechnen von Wahrscheinlichkeiten.

Und kaum gewinnt eine Maschine gegen den Menschen, heißt es: „Jetzt werden wir überflüssig.“ Oder: „Der Terminator wird kommen.“

Das ist auch kulturell bedingt. In Japan etwa finden es alle super, dass mehr Sachen für sie automatisiert sind – da wird der Roboter als Helfer gesehen und nicht als Terminator oder Jobkiller. Niemand kann jeden Tag 10.000 mögliche Kund*innen überprüfen, so wie niemand jeden Tag das komplette Internet manuell durchforsten kann – das kann der Algorithmus von Google deutlich besser.

Wozu wird das letztlich führen?

Man kann historische Fortschritte als Effzienzsprünge sehen: Dampfmaschine, Elektrizität, Internet. Künstliche Intelligenz ist der nächste Effzienzsprung, und er wird uns als Spezies gewaltig verändern. Vor 250 Jahren haben 90 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet, für diese körperliche Arbeit war es wichtig, fit zu sein. Mittlerweile ist es relativ egal, wie groß der Bizeps ist. Andere Eigenschaften sind heute wichtiger. So eine monumentale Verschiebung steht uns durch künstliche Intelligenz bevor. Langfristig bin ich also optimistisch, kurzfristig mache ich mir auch ein paar Sorgen.

Worüber?

Nehmen wir zum Beispiel Lkw-Fahrer*innen: Sie haben einen knallharten Job. Sie müssen konzentriert sein, auch wenn es manchmal stundenlang geradeaus geht. Sie sind oftmals Tage oder Wochen von der Familie getrennt, müssen verschiedene Zeitzonen durchfahren. Es ist kein bequemes Leben, und man könnte sagen: Gut, dass wir daran arbeiten, dass eine Maschine das übernimmt. Wenn man aber Lkw-Fahrer*innen fragt, dann sagen die: „Ich liebe meinen Beruf, ich bin gerne allein, ich will nie was anderes machen.“

Codes für Übermorgen: Richard Socher erforscht unter anderem, wie uns schlaue Sprachassistenten das Arbeitsleben künftig erleichtern können. (Foto: Jeremy Jackson)

Das ist verständlich.

Wenn man die Leute in 150 Jahren fragen wird, ob sie den ganzen Tag allein in einem Lkw sitzen wollen, wird die Antwort wahrscheinlich die gleiche sein, wie wenn man heute fragt, ob sie den ganzen Tag in der prallen Sonne auf einem Feld schuften wollen, bis sie Schwielen an den Händen haben. Sie werden sagen: „Nein, das ist völlig absurd, das macht doch eine Maschine!“

Dennoch haben Lkw-Fahrer*innen Angst, ihren Job zu verlieren. Was sagt man denen?

Noch ist es nicht so weit, es ist also noch Zeit, und es ist die Aufgabe der Politik und der Wirtschaft, die Leute darauf vorzubereiten und ihnen zu erklären, dass es für sie andere Aufgaben geben wird. Vielleicht ist die Fragestellung, ob Maschinen Jobkiller sind, die falsche Herangehensweise.

Was wäre eine bessere?

Das Ziel in der Medizin zum Beispiel ist doch, gesunde Menschen zu haben – und nicht mehr Arbeitsplätze zu schaffen. In der Radiologie beispielsweise ist die künstliche Intelligenz effizient und kostengünstig. Es gibt zu wenige Radiologen, und die menschliche Intelligenz ist nun wahrlich nicht darauf ausgerichtet, tagtäglich und andauernd auf Schwarzweißbilder zu starren. In diesem Bereich kann KI einen positiven Beitrag leisten, und wenn man es so erklärt, leuchtet es den Menschen auch ein.

Das macht die aktuelle Angst vieler Menschen vor dem Jobverlust aber nicht kleiner.

Das stimmt, und deshalb muss die Politik die Menschen mitnehmen. Sozialsysteme müssen das unterstützen. Es muss aber vor allem gezeigt werden, dass es Eigenschaften gibt, die in Zukunft noch stärker gefragt sein werden: Kreativität, Empathie, Probleme zu erkennen, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten.

Die Maschine stellt die Diagnose, die Ärzt*innen übermittelt sie den Patient*innen?

So ungefähr. Aber Ärzt*innen können ja noch viel mehr: Vielleicht werden Ärzt*innen die Analysen mehrerer Maschinen kombinieren, womöglich entdecken sie dabei eine neue Krankheit, ein neues Virus. Diese Kombination von abstraktem und konkretem Wissen ist schwer zu automatisieren. Wir dürfen nicht vergessen: Eine Maschine ist immer nur so gut wie die Daten, die man ihr gibt.

Dadurch entsteht manchmal ein „Bias“ – wenn der Algorithmus Stereotype und Vorurteile bedient. Ist das nicht gefährlicher als alles andere?

Das ist meiner Meinung nach die größte Gefahr. Künstliche Intelligenz wird nie rassistisch oder sexistisch programmiert. Sie arbeitet mit den Daten, die sie bekommt. Fragt zum Beispiel eine Bank den Rechner: „Wer soll einen Kredit bekommen und wer nicht?“, und die Daten der Bank sehen so aus, dass in der Vergangenheit weniger Frauen einen Kredit zur Firmengründung beantragt haben, dann ist es möglich, dass künstliche Intelligenz den Kreditantrag einer Frau eher negativ bewertet. Da hält uns die künstliche Intelligenz einen Spiegel vor: „Guckt mal, so habt ihr das in der Vergangenheit gemacht.“ Man kann aber auch gegensteuern.

Einen Algorithmus kann man einfacher ändern als die Einstellung von 10.000 Vorgesetzten, die immer nur Männer gefördert haben.

Das ist richtig, und man muss sich bewusst machen: Künstliche Intelligenz ist eine sogenannte „Omni-Use Technology“.

Das müssen Sie erklären.

Man kann sie für alles verwenden. Man kann mit einem Hammer ein Haus bauen – oder ihn als Waffe benutzen. Mit einem Auto kann man Menschen transportieren – oder sie überfahren. Im Internet kann man wertvolle Informationen schnell teilen – oder illegale Geschäfte machen. Künstliche Intelligenz kann in fast allen Bereichen eingesetzt werden, für positive und negative Zwecke. Gesichtserkennung kann zum Beispiel dabei helfen, Kriminelle zu verfolgen. Sie kann aber auch für andere, finstere Zwecke eingesetzt werden. Man sollte Technologie nicht verteufeln, die Politik muss hier regulierend eingreifen.

Ist es nicht so, dass der Mensch im Lauf der letzten industriellen Revolutionen zur, nun ja, Maschine geworden ist? Er steht am Fließband, schraubt an Autos, ordnet Papierstapel. Könnte es sein, dass der Mensch mithilfe von künstlicher Intelligenz wieder menschlicher wird?

Unbedingt! Und ich glaube, dass künstliche Intelligenz zu mehr Kommunikation zwischen Menschen führen wird. Immer weniger Leute werden allein langweilige, sich ständig wiederholende Tätigkeiten ausüben. Berufe im zwischenmenschlichen Bereich bekommen hingegen mehr Wertschätzung: Der Altenpfleger, der Geschichte studiert hat, ist vielleicht besser in seinem Job, weil er sich besser in ältere Menschen hineinversetzen kann. Er muss dann aber auch besser bezahlt werden.

Was würden Sie Schüler*innen von heute raten? Was werden zukünftig können müssen?

Zuerst: Informatik, weil man künstliche Intelligenz nicht verstehen kann, wenn man vom Programmieren nichts versteht. Mathematik auch. Aber auch: Ethik, Kunst, Geographie.

Also jene Fächer, vor denen Eltern ihre Kinder eher warnen, aus Angst, sie könnten keinen Job bekommen.

Das wird sich verändern. Rechtschreibung zum Beispiel, so wichtig sie ist, kann künstliche Intelligenz jetzt schon verbessern. Es ist aber eine ganz andere Sache, eine fesselnde Geschichte mit kreativen Ideen und fundierter Fachkenntnis zu schreiben. Das wichtigste Skill-Set für die Kinder der Zukunft ist deshalb meiner Meinung nach eine gute Mischung aus Geisteswissenschaften und Informatik.

Dieser Text erschien ursprünglich in der Print-Ausgabe von INNOVATOR by The Red Bulletin. Das Magazin sowie das TV-Special INNOVATOR TV erzählen von innovativen Menschen und zukunftsträchtigen Ideen und inspiriert uns damit, die Welt von morgen mitzugestalten.

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