Life & Style São Paulo auf Speed: Dieser Motorradfahrer ist Lieferheld und Youtube-Star

São Paulo auf Speed: Dieser Motorradfahrer ist Lieferheld und Youtube-Star

Und weil er immer wieder auch seine Maschine in den Fokus bringt, wird er von einem lokalen Yamaha-Händler mit kostenlosem Werkstattservice unterstützt.
Moacir sagt, dass das Filmen nicht schwer sei, er hat eine GoPro am Helm und kommentiert live seine Fahrten. Für das Schneiden und Editieren des Filmmaterials am Computer braucht er allerdings gut drei Stunden täglich. „Ich habe mir alles selbst beigebracht“, sagt er in der Küche seines winziges Hauses, wo er manchmal bis spät in der Nacht an seinem Laptop sitzt. „Es ist sehr mühsam.“

Früher hat er für eine Motoboy-Agentur gearbeitet und musste den Gewinn mit dem Boss teilen. Seit drei Jahren macht er das auf eigene Rechnung. „Natürlich gibt es Tage, an denen ich keinen Auftrag habe“, sagt er. „Dann fahre ich eben für UberEats Essen aus.“ Man verdient da zwar nicht viel, „aber immer noch besser als nichts“, sagt er gleichmütig.

Reich wird er als Motoboy ohnehin nicht. Moacir kassiert pro Kilometer 1,50 Real, das sind etwa 41 Cent. Im Schnitt schafft er 300 Kilometer pro Tag. Nach Abzug der Benzinkosten bleiben ihm etwa 225 Real, umgerechnet 60 Euro. Ein neues Motorrad kostet 8 700 Real.

Zwischen Gebeten und Gewöhnung

Seitdem Brasilien unter der Dauerwirtschaftskrise ächzt, ist die Lage noch schwieriger geworden. „Damals unter Präsident Lula sprudelten die Aufträge“, sagt Moacir. „Die Margen waren besser, es war leichter, einen Kredit zu bekommen, um ein Motorrad zu kaufen.“ Heute wollen viele Arbeitslose mit Kurierdiensten die Familie ernähren, sie lassen sich nicht registrieren, um keine Steuern zu zahlen.

Manchmal arbeitet Moacir 18 oder 19 Stunden am Tag und kommt erst um Mitternacht nach Hause. Meist ist seine Frau Tatjana immer noch wach: „Ich bete, dass ihm nichts passiert ist“, sagt die dunkelhaarige Frau, mit der er seit acht Jahren zusammenlebt. „Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran, dass er einen gefährlichen Job hat.“

Bei all den waghalsigen Manövern, die Moacir im Verkehr abzieht, stellen die größte Gefahr nicht plötzlich ausscherende Lkw dar, sondern Banden, die einem in São Paulo überall auflauern. Moacir ist bereits mehrmals überfallen und ausgeraubt worden. Zuletzt passierte es beim Ausliefern einer Pizza, als plötzlich drei Männer um ihn herumstanden und ihm eine Pistole an die Brust setzten. „Ich hatte keine andere Wahl, als ihnen die Schlüssel auszuhändigen“, sagt er. Seitdem fährt er nur ungerne in der Nacht und versucht, manche Viertel konsequent zu meiden.

Verkehr ist Krieg

Dreimal wurde ihm seine Maschine gestohlen. „Wenn du keine Versicherung hast, kannst du einpacken“, sagt er. Hilfe von der Polizei ist nicht zu erwarten. Stattdessen versuchen die korrupten Ordnungshüter, den Motoboys Geld abzuknöpfen. Auch Moa­cir wird immer wieder ohne Grund kontrolliert. Mal soll er die Kreuzung bei Rot überfahren oder den Blinker nicht betätigt haben. Angesichts seiner tausend anderen täglichen Verkehrsvergehen schon ein bisschen ulkig. „Manchmal fordern sie mich auf, die Helmkamera abzuschalten, damit ich keine Beweise habe“, sagt der Motoboy. „Das tue ich aber nie. Ich würde sie auch nie bestechen.“

Die Abneigung gegenüber der Polizei hat tiefe Wurzeln. Moacir war 13 Jahre lang drogenabhängig; was er verdiente, investierte er in Crack und Kokain. Erst mit Tatjanas Hilfe schaffte er es, aus der Abhängigkeit rauszukommen. Er kennt Tatjana seit ihrer Kindheit, heute haben sie zwei gemeinsame Kinder: Ana Luisa, sieben, und Moacir junior, zwei. Ihr Zuhause ist ein winziges Häuschen im Südosten der Metropole. Ins Zimmer passen gerade zwei Betten, auf denen die Familie schläft. In der Küche stehen ein Herd, ein Kühlschrank und ein Tischchen, auf dem der Laptop wartet.

Die Motoboys sind unter den Autofahrern verhasst. Manche sind einfach neidisch, dass sie vorbeirasen, während sie selbst stundenlang im Stau stecken. Andere behaupten, dass Motoboys beim Vorbeifahren gegen die Autos treten und die Außenspiegel abfahren. Wenn man Moacirs Videos anschaut, sind solche Vorkommnisse zumindest nicht auszuschließen.

Moacir will davon aber nichts wissen. Er ist plötzlich bewusst gutmütig und fröhlich, spricht während der Fahrt immer wieder Kollegen an, wenn sie an der Kreuzung gemeinsam auf Grün warten. Scherzt mit Passanten, pfeift Frauen nach, ganz Mensch. Nur die Hubschrauber mag er nicht, die in São Paulo die Superreichen zu Terminen fliegen. „Die halten sich für etwas Besseres“, ätzt er.

Moacir fährt ins Zentrum. Von der Hochstraße blickt er hinunter auf die sich endlos ausbreitende Stadt. Er zieht an einem Schulbus vorbei, weicht auf den Standstreifen aus und taucht ab in die engen Betonschluchten von Bairro Campos Elísios, wo sich kleine Läden mit Motorradzubehör befinden. Er sucht einen potenziellen Sponsor auf, der ihn mit Kleidung ausstatten soll, wenn er sie werbewirksam in seinen Clips zeigt. Vor dem Laden wollen zwei Schuljungen ein Foto mit Moacir, sie kennen seine Videos, er ist für sie ein Held. Ein großes Lächeln geht über das Gesicht des Motoboys. „Ich liebe diesen Beruf!“

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