Life & Style Mercedes lässt die Puppen tanzen

Mercedes lässt die Puppen tanzen

Crashtest-Dummys sind mal aus Kohlefaser, mal aus Gummi und meistens mit einem Aluminiumskelett ausgerüstet. Was sie bislang allerdings stets waren: männlich. Damit ist Schluss. Das gleichberechtigte Überleben hält Einzug in die Versuchslabore.

Der Knall ist ohrenbetäubend. Wie eine Explosion. Der schöne erdbeermundrote Mercedes ist mit genau 56 Stundenkilometern gegen die Wand gekracht. Die drei Insassen hängen leblos in den Gurten. Es riecht nach auslaufender Kühlflüssigkeit und auch so, als würde noch irgendwo ein Kabel schmoren. Das Ganze ist bei gleißend hellem Licht passiert vor den Augen vieler Zuschauer. Jetzt kommen drei Helfer in gemächlichem Trott heran, schleppen einen Werkzeugwagen hinter sich her und machen sich an den Insassen zu schaffen. Mit dem Laptop lesen sie die Daten aus, die über Wohl und Wehe der drei Unfallopfer Auskunft geben. 

Es sind drei Frauen. Genauer: Puppen, die den Körperbau von Frauen ziemlich genau nachbilden. Wir befinden uns im Mercedes-Sicherheitszentrum in Sindelfingen. Zehn Jahre nach dessen Inbetriebnahme zieht hier in diese riesige, freitragende Halle, wo eine Strecke so lang ist, dass sogar die Erdkrümmung für optimale Testbedingungen beim Bau ausgeglichen werden musste, ge- rade die Gleichberechtigung ein. Weibliche Crashtest-Dummys sollen das echte Leben und Autofahren von Frauen sicherer machen. Mercedes setzt die naheliegende Erfindung, auf die schwedische Sicherheitsfreaks rund um Volvo kamen, inzwischen bei seinen Kaputt-mach-Aktionen ein. 

Jungfräuliche Biomechanik

Die Dummy-Entwicklung ist keine durchweg appetitliche Wissenschaft. In den späten 1930er-Jahren war die Biomechanik ein nahezu jungfräuliches Forschungsgebiet. Die ersten Versuchsobjekte für Unfallforscher waren menschliche Leichen, an denen die grundlegende Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen Quetsch- und Zerrkräfte ausprobiert wurde: Die Wissenschaftler stürzten dazu leblose Körper in ungenutzte Aufzugschächte. Jeweils konnte durch den freien Fall die Beschleunigung der Stürzenden am einfachsten bestimmt werden. Der nächste Schritt: Leichen band man in Automobilen fest und nutzte die Versuchsaufbauten dann in frontalen Zusammenstößen sowie bei Überschlägen. 

Von da war es nicht mehr weit zu Versuchen mit Lebenden – unter ihnen der legendäre Lawrence Patrick, ein emeritierter Professor der Wayne State University aus Detroit, die in der Unfallforschung lange führend war. Der Professor machte mehr als 400 Versuche auf einem Raketenschlitten, wo er sich selbst innerhalb einer Sekunde von 1.000 Stundenkilometern auf null abbremsen ließ. Er und seine Studenten erlaubten es, dass ihnen schwere Stahlgewichte auf die Brust sowie ins Gesicht fallen gelassen wurden, um Schläge beim Aufprall während eines Verkehrsunfalls zu simulieren. Auch wurde ihnen zersplittertes Glas entgegengeblasen, um die Effekte eines Bruches der Windschutzscheibe während der Fahrt oder beim Aufprall zu simulieren. Patrick gab an, dass er „a little sore“ sei, also „leichte Schmerzen“ verspürt habe, die er aber ignoriere, angesichts der bahnbrechenden Forschungsergebnisse seines Teams. 

Zurück in die Mercedes-Halle. Hanna Paul, kurze Haare, hoch-gekrempelte Ärmel, kennt diese Geschichten. Sie kommt ursprünglich vom Fraunhofer-Institut und ist seit anderthalb Jahren die oberste Puppenspielerin bei Mercedes. Sie trägt die Verantwortung für ein ganz besonderes Team: 120 Crashtest-Dummys. Ihr Ensemble reicht von etwa 3,5 Kilo schweren Säuglingen über Kinder und Jugendliche in verschiedenen Altersstufen bis hin zur sogenannten Fünf-Perzentil-Frau – um alle Facetten der Menschen abzubilden. In diesem Fall ist eine 152 Zentimeter große und 54 Kilogramm schwere Frau gemeint, nur fünf Prozent der Frauen sind kleiner und leichter. 

Es gibt auch den 50-Perzentil-Mann. Er ist 78 Kilo schwer und 175 Zentimeter hochgewachsen, 50 Prozent aller Männer sind größer und schwerer beziehungsweise kleiner und leichter. „Dummys gibt es etwa seit 1960. Das Militär hat sie als Erstes in Flugzeugen eingesetzt“, berichtet Paul. Sechziger-jahre, Militär, Flugzeuge – es wird klar, warum historisch gesehen männliche Puppen für die Versuchszwecke herhalten mussten. Und Paul berichtet, was das bedeutet: Anhand der männlichen Maße werden bei der Entwicklung von Autos der Sitz, der Sicherheitsgurt und der Airbag im Fahrzeug angeordnet. Unternehmen sind bislang nur dazu ver- pflichtet, die Tests mit männlichen Dum- my-Puppen zu machen. 

„Gender-Safety-Gap“ schließen

Die Folge: So wie es einen „Gender-Pay- Gap“ gibt, also den geschlechtsspezifischen Verdienstunterschied zulasten von Frauen im Vergleich zu Männern, lässt sich tatsächlich ein „Gender-Safety- Gap“ nicht wegdiskutieren: Frauen tragen bei einem Autounfall ein deutlich erhöhtes Verletzungs- und gar Sterberisiko. Die US-Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA hat es untersucht: In Autos, die bis ins erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gebaut wurden, liegt die Wahrscheinlichkeit für Frauen, bei einem Verkehrsunfall zu sterben, um 18,3 Prozent höher als bei Männern. Danach wird es besser: Der Wert sinkt um zwei Drittel. Der Unterschied existiert weiterhin, aber immerhin schmilzt er. „Autos sind generell deutlich sicherer geworden“, sagt Paul. Damit verringere sich auch der Abstand beim Verletzungsrisiko zwischen Mann und Frau. 

Was aber auch stimmt: Die Unfallforschung hat Frauen viel zu lange mal eben links liegen gelassen. Zwar gibt es jene weiblichen Crashtest-Puppen wie die Fünf-Perzentil-Frau oder im ADAC-Sprech „Hybrid Frau 5 %“, aber die sind einfach nur etwas kleiner und leichter als ihre männlichen Pendants. Das Frauen von der Brust bis zum Becken einen anderen Körperbau haben, ist eine jahrtausendalte Erkenntnis, die sich aber in der Dummy-Entwicklung erst seit den 

2020er-Jahren herumsprach. Schmalere Schultern und mehr Körperfett, dafür weniger Muskeln sind weibliche Merkmale, für die sich Unfallforscher zunehmend interessieren. Durch die kleinere Körpergröße sitzen sie außerdem häufig höher und näher am Lenkrad, was bei Crashs, wo Zentimeterabstände über eine schwere Verletzung oder „nur geprellt“ entscheiden, ein Faktor ist. 

Endlich kommt „Eva“ 

Deswegen ist „Eva“ ein Lichtblick. Sie stammt nicht aus der Rippe irgendeines Adams, sondern aus der Werkstatt der schwedischen Autosicherheitsforscherin Astrid Linder. „Eva“ hat mit 62 Kilogramm nicht das Gewicht eines Models, sondern ein realistisches. „Evas“ Brust, ihr Becken und ihre Hüfte sind der des weiblichen Körperbaus nachempfunden. Linder ging auf die Versicherer zu, die viel über Behinderungen wissen, die Frauen durch Autounfälle erleiden. „Diese Daten sind in den nationalen Unfalldaten nicht zu finden, die entweder auf dem Polizeibericht beruhen und bestenfalls auch die Bewertung der Verletzung bei der Einlieferung in die Notaufnahme des Krankenhauses enthalten“, sagt Linder im Gespräch mit einem Fachblatt. Solche Daten lieferten zwar wertvolle Informationen, sagen aber nichts über die möglichen langfristigen Folgen der beim Unfall erlittenen Verletzungen aus. Linders Ziel? „Wir wollen nicht nur die geschlechtsspezifische Sicherheitslücke schließen, sondern die Sicherheitslücke insgesamt. Denn auch der durchschnittliche Mann ist keineswegs durchschnittlich, auch hier brauchen wir Verbesserungen.“ Dass mit „Eva“ nun ein echter weiblicher Crashtest-Dummy existiert, heißt aber noch lange nicht, dass er auch eingesetzt wird. Das Zulassungsverfahren in der EU schreibt beispielsweise aktuell explizit vor, die Sicherheitsgurte von Autos am männlichen Durchschnitts-Dummy zu testen. Linder fordert, dass sich diese Regelung schnell ändert und bald auch Crashtests mit weiblichen Dummys zur Voraussetzung für die Zulassung neuer Automodelle werden. Die Vereinten Nationen überprüfen derzeit, ob sie ihre Vorschriften künftig anpassen. Wie schnell sich in Sachen Crashtest-Dummys Gleichberechtigung herstellen lässt, dürfte nicht zuletzt eine Geldfrage sein. Hanna Paul zufolge kostet ein Exemplar des aktuell eingesetzten männlichen Standard-Dummys „Thor“ etwa eine Million Euro. Der horrende Preis liegt daran, dass „Thor“ einen eigenen Akku, Speichertechnik und ungefähr 100 hochsensible Sensoren mit sich herumträgt, die regelmäßig ausgetauscht werden müssen, wenn es gekracht hat. Der Preis hängt aber auch damit zusammen, dass der Markt für diese Dummys von einer US-Firma namens Denton ATD beherrscht wird. Und wie immer, wenn es wenige Anbieter gibt, diktieren diese die Preise. Immerhin ist „Eva“ nicht teurer als „Thor“. Das wäre vermutlich der Fall, wenn es eine schwangere Version von ihr gäbe. Aber so weit sind die Dummy-Entwickler dann doch noch nicht. 

Überhaupt: Auch die jüngste Generation der Dummys hat ihre körperlichen Grenzen. Auswirkungen eines Unfalls auf innere Organe lassen sich nur abschätzen. Die Computersimulation dürfte irgendwann das Puppenspiel ersetzen. Aber – und da ist sich Hanna Paul mit anderen Experten einig: Das wird dauern, mindestens noch eine Generation. Bis dahin ertragen „Thor“ und „Eva“ unverdrossen Rippenbrüche, Nackenschmerzen und helfen dabei, dass alle lebenden Pkw-Insassen beim Crash schön heile bleiben. 

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