Innovation & Future Wie aus „Avatar“: So stellt sich Mercedes das Auto in 130 Jahren vor

Wie aus „Avatar“: So stellt sich Mercedes das Auto in 130 Jahren vor

Ernsthaft, war hier wer auf Pille? Oder warum sieht dieses Auto aus, als wäre es einem Traum entsprungen? Scheinbar schwebend, leuchtend, sich in sich selbst bewegend, hell, viel Glas, viel Weiß, viel Silber, geschwungene Formen, noch mehr Licht, Farben – kurz, ein Regenbogen auf der Straße. Das Auto, das Mercedes im Januar auf der CES in Las Vegas vorgestellt hat, ist eine Vision dessen, wie Fahrzeuge und Fahren in der Zukunft aussehen könnten. Der Stand, den sich Mercedes auf der CES geleistet hat, ist dunkel. Das Fahrzeug, das Vision AVTR, soll so vollends zur Geltung kommen.

Die Aufmerksamkeit hat es jedenfalls: Besucher*innen drängeln sich um den Wagen, so viele, dass man ihn gar nicht mehr sieht. Alle haben sie Kameras in der Hand. Jeder will beweisen, dass er dabei war. Klassisches „Wo warst du als?“.

Am Heck die sogenannten Flaps, die wirken wie die Schuppen einer Echse. Die sich zudem noch bewegen. Mal liegen sie eng an der Karosserie an, mal stehen sie weit ab, leuchten rot, als würde eine Angriffsstellung vorbereitet. Natürlich sind die Flaps nicht nur optische Elemente. Sie sollen dem Wagen helfen, seine Leistung auf die Straße zu bringen. Außerdem kommunizieren sie mit der Umwelt, neigen sich in die Richtung, in die das Auto fährt. Rotes Leuchten zeigt einen Bremsvorgang an. Reifen gibt es auch nicht mehr so richtig. Es sind stattdessen leuchtende Bälle.

So könnte Autofahren in 130 Jahren aussehen oder, wie Mercedes selber sagt, „in a time beyond tomorrow“. Zur Erklärung: Bei Mercedes hat man sich überlegt, wie ein Auto aussehen könnte, das vom Jahr 2020 ungefähr genauso weit entfernt ist wie die Benzinkutsche, die Bertha Benz im Jahr 1888 gesteuert hatte.

Auch das passiert: Der Puls des Fahrers wird gemessen

„Dieses Auto führt uns weg von der heutigen Automotive-Welt“, sagt Gorden Wagener. Er hat das Vision AVTR in den vergangenen 18 Monaten erdacht. In anderthalb Jahren hat er etwas geschaffen, das, wie er meint, Mercedes langfristig noch mehr hin zu einer Luxus-Brand verschiebt. Dafür haben er und sein Designteam alles, was Autofahren heute ausmacht, neu gedacht und erst einmal kräftig aufgeräumt und alles rausgenommen, was Autos heute zu Autos macht: Es gibt kein Lenkrad mehr – dafür ein Gerät in der Mittelkonsole, auf das man seine Handfläche legt. Es gibt auch keine anderen Bedienelemente mehr. Alles das, was man sonst in statischen Knöpfen findet, wird den Fahrer*innen in diesem Auto in die Handfläche projiziert – es gibt nur noch Gestensteuerung. Die Reifen leuchten außen, mal eher blau, mal eher rot, auf ihnen kann das Gefährt nicht nur vorwärts oder rückwärts, sondern auch zur Seite fahren. Das alles wirkt wie ein Superheldengefährt aus einem Film.

Und siehe da, AVTR steht für „Avatar“. Das Auto ist angelehnt an den Film von James Cameron. Der mit den blauen Figuren, mit all dem Zukunftszeug. Um sich möglichst weit von dem zu lösen, was wir kennen, hat Mercedes Cameron dann auch gleich zur Unterstützung mit ins Boot geholt.

Das Schöne und Interessante daran ist: Mercedes geht es nicht darum zu zeigen, wie die Mobilität der Zukunft tatsächlich aussehen wird. Sondern darum, dass Autos irgendwann einmal mehr sein können als Maschinen – nämlich stattdessen lebende Organismen, hochintelligent und grün. In einem späteren Schritt könnten irgendwann einmal realistische Produkt­optionen daraus abgeleitet werden. Aber in erster Linie soll das Vision AVTR faszinieren und verwundern: Da soll ich drinsitzen? Auch das ein Effekt des Modells: Schon lange hat einen eine Modellstudie nicht mehr so überrascht. Das Vision AVTR macht vor allem bewusst, dass sich Autos in der nahen Zukunft stärker verändern werden, als sie das in ihrer bisherigen Geschichte getan haben. Wir werden Autos neu erleben, anders steuern, uns mit ihnen verbinden.

Dass in diesem konkreten Fall dabei weniger ein Auto als vielmehr ein Fabelwesen herauskommt, könnte man als eine Flucht vor den irdischen Problemen der Automobilindustrie interpretieren. Oder aber als eine Flucht nach vorne, in die große Freiheit einer Vision einer frei interpretierten Zukunft.

Der Weg ins Unbekannte

„Meine Kinder würden sagen: Wir werfen hier mit Süßigkeiten im Candyshop um uns“, sagt Wagener. Die Besucher*innen stehen später zusammen und diskutieren. Was wird bleiben vom Vision AVTR? Die Sitze, die ihre Farbe von Hell- zu Dunkelblau verändern, je nachdem, wie das Licht auf sie fällt? Die die Aufgabe haben, dem Fahrer ein Gefühl von „Zu-Hause-Sein“ zu vermitteln? Das Interface, das die Steuerungsbefehle in die Handflächen der Fahrer*innen projiziert und dann über einfache Gesten funktioniert? Oder vielleicht einfach nur der Designansatz, bei dem Äußeres, Inneres und die Using-Experience eines Wagens das erste Mal gemeinsam gedacht worden sind.

Es kann sein, dass sie bei Mercedes in ein paar Jahren aus diesem Traum aufwachen und merken, dass sie irdische Entwicklungen völlig verschlafen haben – oder nur Teile des AVTR ihren Weg in die reale Produktpalette von Mercedes finden. „Ob künftige Serienfahrzeuge mal so aussehen wie das Vision AVTR? Nicht in absehbarer Zeit“, sagt Bettina Fetzer, die Chefin des Marketings bei Mercedes. „Aber das Spannende sind die Themen, die das Visionsfahrzeug verkörpert.“ Außerdem gehe es ums Vertrauen. Bisher vertrauten die Kund*innen Mercedes ihr Leben an, weil die Autos sie bewegen. „Jetzt geht es aber um einen minimalen Impact auf der Erde.“

Gesteuert wird per Gesten und Licht

Nachhaltigkeit also. Und deshalb ist doch schon klar, welche Elemente es in die Realität schaffen werden, die grünen nämlich. Die sind schon jetzt Teil der Strategie des Unternehmens. Die Batterie, die ohne fossile Elemente auskommt, ohne seltene Erden, deren Abbau die Umwelt belastet. Zudem ist sie kompostierbar. Der Innenraum des Wagens ist vegan. Das Kunstleder in den Sitzen besteht aus recycelten PET-Flaschen und Altkleidern. Den Boden des AVTR stellt Mercedes aus einem speziellen Holz her, das in Indonesien per Hand geerntet wird: Karuun. Das ist ein natürlicher Rohstoff, der sehr schnell nachwächst. Das verringert die Auswirkungen auf die Umwelt.

Das Ziel von Mercedes ist, dass in den nächsten 20 Jahren die Neuwagenflotte CO-neutral unterwegs ist. Plug-in-Hybride oder Elektrofahrzeuge stehen da im Fokus. Das gilt auch für die Produktion der Wagen. Bis 2022 sollen die Werke klimaneutral sein. Erneuerbare Energien werden der Schlüssel dazu sein. Dieser Anspruch manifestiert sich im AVTR.

Wie die Schuppen einer Echse: Die Flaps des Vision AVTR kommunizieren mit der Umwelt

Ob die Autos der Zukunft leben und atmen werden wie das Vision AVTR, das ist eine Frage, die nur die Zeit beantworten kann. Was es aber vormacht, ist, dass Autos sich von einer Ansammlung aus Einzelteilen hin zu einem digitalen Organismus wandeln werden. „Wir versuchen, Mensch, Maschine und Natur in einer organischen Symbiose verschmelzen zu lassen“, sagt Fetzer. Wie? Die Kommunikation zwischen Fahrer*innen und Auto wird sensibler. So erkennt das AVTR den Puls seiner Fahrer*innen und überträgt ihn auf den Sitz, was dazu führt, dass es sich anfühlt, als sei das AVTR tatsächlich lebendig.

Fetzer: „Wir gehen damit den nächsten Schritt. Vom Human-Machine-Interface hin zum Human-Machine-Merge.“ Die Wahrnehmung der Fahrer*innen wird erweitert. Virtual Reality macht die Luftströmungen, die das Auto umgeben, sichtbar. Ebenfalls Temperaturunterschiede. Das geschieht über einen Bildschirm, der sich einmal durch die Front des Wagens zieht. Es entsteht ein immersiver Erlebnisraum: Die Natur, durch die man fährt, wird auf die Bildschirme projiziert. Sie wird so zu einem Teil des Fahrzeugs. „Man fühlt den Herzschlag, den Puls, man soll erleben, wie wunderschön die Welt ist, durch die man fährt. Und wie schützenswert sie ist“, sagt Fetzer. Diese Verbundenheit mit der Umwelt haben die Designer*innen noch überspitzt. Etwa, dass Samen in die Reifen gesteckt werden können, die beim Fahren herausschleudern. „Dann wachsen dort, wo das Auto unterwegs war, sogar Pflanzen“, sagt Wagener. „Ganz romantisch. Aber man muss als Designer*in auch mal ein bisschen poetisch sein.“

Autonom kann jeder

Fahren, sagt Wagener, soll im AVTR zu einem sinnlichen Erlebnis werden. Gerade für einen Hersteller von Luxusautos, wie es Mercedes ist – und auch in Zukunft bleiben will. Dem Trend, autonomes Fahren in den Mittelpunkt zu stellen, hat sich Mercedes daher bewusst entzogen. Grünes, luxuriöses und (selbst)bewusstes Fahren, in dem die Verbindung zwischen den Elementen im Vordergrund steht: Das Auto der Zukunft kann und soll also noch selbst gesteuert werden. „Autonom fahren kann inzwischen jedes Concept-Car“, sagt Wagener. Kund*innen, für die Mercedes-Fahren aber etwas Besonderes ist, wollten nicht nur autonom fahren. Käufer*innen einer Luxusmarke wie Mercedes wollten etwas erleben und wählen dürfen zwischen den Fahrmodi. Sie wollten Autos, die sie nicht nur von A nach B bringen – „sonst ist das ja wie Straßenbahnfahren“. Deshalb die Vision, deshalb dieses „next big thing“, wie Wagener es nennt. Alle Disziplinen, sagt er, haben hier zusammengearbeitet, um „ein future vehicle zu bauen“.

Okay. Abschließende Frage: Aber ist das alles jetzt irgendwie Irrsinn – oder ist es doch vor allem irrsinnig gut? Egal, denn gerade ist das einfach alles nur revolutionär. Und egal, was man vom AVTR halten mag, die Message, die Mercedes mit dem Auto wagt, ist richtig. Das Auto wird gebraucht und hat Zukunft. Und: Mensch, Umwelt und Maschine sind mehrere Teile eines Ganzen. Spätestens, als das Vision AVTR über den Strip rollt, verschmelzen seine Lichter wirklich mit der Umgebung. Wie im Rausch.

Freunde, die neue Ausgabe von BUSINESS PUNK ist da! Oh yeah! Wir haben uns umgesehen und festgestellt: Mag in der kommenden Rezession der freundliche New-Work-Coach mit seinen Ideen aus dem Meeting gelacht werden, das Green Biz hingegen ist mittlerweile zu weit fortgeschritten, als dass sich Konzerne und Startups erlauben könnten, auch in schweren wirtschaftlichen Zeiten Begriffe wie Sustainability oder Corporate Social Responsibility nicht ernsthaft zu besetzen. JETZT AUSGABE SICHERN!

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