Leadership & Karriere Keiner mehr im Büro? So muss sich Führung jetzt verändern

Keiner mehr im Büro? So muss sich Führung jetzt verändern

Ein Gastbeitrag von Nicholas Pesch

Mitten in der Videokonferenz stürmt das Kind des Geschäftsführers herein, klettert auf seinen Schoß und hält ein selbstgemaltes Bild in die Kamera. Ein anderes Mal fängt eine Mitarbeiterin plötzlich an zu weinen, weil Sorgen und Belastung zu groß sind und sie einfach nicht mehr kann.

Geschichten wie diese ereignen sich gerade tagtäglich und stellen Führungskräfte vor große Herausforderungen. Selbst diejenigen, die sich bisher mit Händen und Füßen gegen New Work gewehrt haben, müssen jetzt Teams führen, die im Homeoffice sitzen. Und das nicht einmal pro Woche, sondern täglich.

Hinzu kommt: Alle haben gerade Ängste und Sorgen – um die eigene oder die Gesundheit von Angehörigen, um die Zukunft des eigenen Arbeitsplatzes oder um die Situation zuhause mit Home Schooling, ungewohnter Enge oder auch Einsamkeit. Und sie ringen um Konzentration, weil es eben schon vom Spread Sheet ablenkt, wenn sich draußen vor dem Fenster die Welt neu formiert.

Eine Transformation im Schnelldurchlauf

Wie können Führungspersönlichkeiten mit dieser inneren und äußeren Konfusion umgehen? Wie können sie eine gute Balance aus Nähe und Distanz schaffen, um die Arbeitsfähigkeit ihres Teams zu erhalten? Wie können sie virtuell Präsenz zeigen und ein Team auf lange Sicht zusammenhalten? Aus zahlreichen Gesprächen mit meinen Klient*innen weiß ich: Für fast alle Führungskräfte ist diese Situation weit mehr als eine Managementaufgabe – es ist eine Transformation im Schnelldurchlauf.

Schon lange vor dieser Krise hätte sich in vielen Unternehmen etwas ändern müssen. Die Zeit von Zuckerbrot und Peitsche, die nur Lob und Tadel, Command and Control kennt, ist lange vorbei. Auf Fachchinesisch heißt das „transaktionale Führung“ – hört sich eindrucksvoll an, ist aber nichts anderes als eine Form der Knechtschaft im modernen Gewand. Ein Führungsstil, der den Erfordernissen von Dienstleistung, kreativen Lösungen und Digitalisierung nicht mehr genügt. Doch in guten Zeiten mahlen die Mühlen oft langsam: Und so ächzt die Führungskultur vielerorts noch immer unter den Relikten längst überholter Traditionen.

Transaktionale Leader*innen sind – oft unbewusst – davon überzeugt, dass ihre Mitarbeiter*innen rein gar nichts tun, wenn man sie nicht antreibt und kontrolliert. Dementsprechend sehen sie es – ebenso unbewusst – als ihre Aufgabe an, den anderen zu sagen, was sie tun sollen. Ihre Mitarbeiter*innen bis auf weiteres im Homeoffice zu wissen, bedeutet für diese Führungskräfte einen massiven Kontrollverlust. Auf Distanz zu führen – das müssen sie jetzt schmerzhaft feststellen – funktioniert nicht mit den alten Prinzipien.

Nicholas Pesch ©Roderick Aichinger

Patentrezepte sind außer Kraft gesetzt

Selbst die Letzten sollten jetzt verstehen, was Leadership heute (und nicht nur in der aktuellen Extremsituation) bedeutet: mit Vertrauen führen, Sinn vermitteln, Mitarbeiter*innen zur Eigenverantwortung ermutigen und sie bei der Entwicklung ihrer Potenziale unterstützen. Ganz im Sinne von transformationaler Führung, die auf einem ganz anderen Menschenbild beruht. Transformationale Leader*innen gehen davon aus, dass Menschen von sich aus (intrinsisch) motiviert sind und Lust auf Leistung haben. Sie betrachten es daher als ihre Aufgabe, ein Umfeld zu schaffen, in dem ihre Mitarbeiter*innen ihre Talente und Potenziale bestmöglich entfalten können.

Leader*innen, die transformational ticken, ersetzen Kontrolle durch Vertrauen: Sie geben Orientierung durch Vorbild, Glaubwürdigkeit und ihre inspirierenden Ideen und Visionen. Gleichzeitig fordern sie Selbstständigkeit und Eigenverantwortung ein. So motivieren sie und ermöglichen ihren Mitarbeiter*innen, Sinn und Erfüllung in ihrem Tun zu finden.

Nichts geht über Menschlichkeit

Um auf diese Weise zu führen, braucht es neue Leadership-Qualitäten: Wichtiger als Durchsetzungsstärke oder analytischer Verstand sind Empathie, Glaubwürdigkeit und Menschlichkeit. Gerade jetzt in der Krise müssen Führungskräfte für andere als Mensch wahrnehmbar sein – inklusive eigener Schwächen und Verletzbarkeit! Wenn Führungskräfte ihren Mitarbeiter*innen empathisch und mitfühlend begegnen, kann jenes Vertrauen wachsen, in dem Mitarbeiter*innen sich öffnen und teilen, was sie bewegt. Echter Teamspirit – virtuell zumal – kann nur so entstehen.

Eine solche Transformation des eigenen Führungsverhaltens gelingt durch intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Überzeugungen und Grundannahmen. Jetzt in der Krise gilt mehr als je zuvor: Wer auf die neue Situation nicht mit alten Rezepten reagieren will, muss verstehen, dass das, was er oder sie fühlt und denkt, wenig mit der tatsächlichen Realität, sondern vor allem mit unbewusst erlernten Mustern und Prägungen zu tun hat.

Machen wir es an einem Beispiel deutlich: Die Führungskraft, die zutiefst davon überzeugt ist, dass Menschen nur Leistung bringen, wenn man sie kontrolliert und überwacht, wird wahrscheinlich genau dies jetzt erfahren: Die Leute machen im Homeoffice Dienst nach Vorschrift. Woran das liegt? Wahrscheinlich nicht daran, dass es gerade diesen Menschen an intrinsischer Motivation mangelt. Vielmehr ist zu befürchten, dass die Führungskraft geleitet von ihrer unbewussten Überzeugung, viel dafür getan hat, dass ihre Mitarbeiter*innen nur noch strikt nach ihren Anordnungen handeln. Bleiben diese aus, tun sie halt nichts.

Erfolgreich zu führen, hängt jetzt maßgeblich davon ab, ob es uns gelingt, auf neue Situationen mit neuen Lösungen zu reagieren. Wie lange Covid-19 uns begleiten wird, wissen wir nicht. Eines aber ist gewiss: Die neue Normalität wird anders sein als bisher. Nur die Führungskräfte, die fähig sind, sich selbst sowie ihr eigenes Denken und Handeln zu transformieren, werden in der Lage sein, ihre Mitarbeiter*innen und ihre Unternehmen auf die neuen Zeiten einzustellen. Wer dies nicht kann, der wird die aktuelle Krise und das, was nach ihr kommen wird, gewiss nicht meistern. Die Fähigkeit zur Transformation bleibt das Gebot der Stunde.

Nicholas Pesch ist Top-Executive- Coach, Unternehmensberater und Autor („Der bewusste Leader“, GABAL, 2020) und unterstützt Entscheider und Führungskräfte rund um den Globus.

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