Life & Style Schrottbücher: Warum stehen Ratgeber von erfundenen Autor*innen in den Amazon-Bestseller-Listen?

Schrottbücher: Warum stehen Ratgeber von erfundenen Autor*innen in den Amazon-Bestseller-Listen?

Dr. Jan Höpker ist der Gründer von HabitGym und selbst Autor von Ratgeber-Büchern, wie zum Beispiel „Erfolg durch Fokus und Konzentration“. Durch eigene Recherchen ist er darauf gekommen, dass es bei Amazon ein ganzes System an Schrottbüchern gibt, geschrieben von Ghostwritern und ausgestattet mit gekauften Bewertungen, die Verbraucher*innen in die Irre führen. Wir haben mit ihm über dieses zweifelhafte Geschäftsmodell gesprochen.

Lieber Jan, googelt man „Fake Ratgeber“ so stößt man unweigerlich auf deinen Namen. Das liegt an deinem Artikel „Die Zerstörung der Fake-Ratgeber (auf Amazon)“, in dem du das Business mit Selbsthilfebüchern von Ghostwritern aufdeckst, du nennst sie „Schrottbücher“. Wie bist du zu diesem Thema gekommen?

Mir war aufgefallen, dass viele neue Ratgeberbücher innerhalb kürzester Zeit absurd viele positive Rezensionen erhalten. Wir reden von fünfzig bis hundert Rezensionen im ersten Monat. Da ich selbst bei Amazon veröffentlicht habe, weiß ich, dass das nicht normal ist. Später fiel mir auf, dass die Rezensent*innen, die für diese Flut an Rezensionen sorgen, immer wieder die Gleichen sind.

Hast du ein Beispiel?

Klar. Es klingt wie ein schlechter Witz, aber: Was haben das Buch BARF – Artgerechte Rohfütterung für Hunde von Theodor Roswell und das Buch Fokus & Konzentration von Vincent Matthiesen gemeinsam? 

Die Antwort: 65 der 85 Rezensent*innen, die Roswells Buch bewertet haben, haben auch das andere Buch rezensiert (Stand: Mai 2020). Außerdem findet man über beide Autoren absolut nichts im Internet, obwohl Vincent Matthiesen angeblich sechs erfolgreiche Unternehmen führt.

Die Fotos beider Autoren stammen von Stockfotoseiten (sie zeigen also garantiert nicht diejenigen, die die Bücher geschrieben haben) und im Impressum beider Bücher steht auch nicht der Name des angeblichen Autors, sondern ein anderer Name, der bei den beiden Büchern interessanterweise der Gleiche ist.

Die beiden Titel sind keine Einzelfälle, im Frühjahr 2020 hatte ich bei 1.000 identifizierten Fake-Ratgebern aufgehört zu zählen. Seitdem ist ihre Anzahl weiter explodiert. Da auch ihr Inhalt größtenteils Schrott ist, nenne ich sie „Schrottbücher“. Übrigens war ich nicht der Erste, der über das Thema geschrieben hat; vor mir hatten mindestens zwei weitere Blogs darüber berichtet.

Ratgeber-Autorin Victoria Lakefield ist eigentlich ein Geist. Die Bilder kommen von Shutterstock. Quelle: Amazon-Screenshot

Wie erkennt man Fake-Ratgeber?

Die Publisher der Fake-Ratgeber geben sich große Mühe, den Eindruck zu erwecken, es handele sich um herausragende Bücher großartiger Expert*innen.

Am eindeutigsten lassen sich die Fake-Ratgeber über frühe positive Rezensionen erkennen, denn die stammen von den immer gleichen Rezensent*innen (die zumeist ausschließlich Fake-Ratgeber rezensieren). Wer die üblichen zwei- bis dreihundert Fake-Rezensent*innen noch nicht beim Namen kennt, sollte einmal das folgende Experiment machen: Die Verkaufsseiten eines Fake-Ratgebers und eines richtigen Buches aufrufen und bei jeweils einem Dutzend Rezensenten auf den Namen klicken, um zu schauen, wie viele Rezensionen diese bereits veröffentlicht haben.

Bei seriösen Büchern findet man zumeist Zahlen im ein- und niedrigen zweistelligen Bereich, während die Mehrheit der Rezensent*innen der Fake-Ratgeber Hunderte oder sogar mehr als tausend Rezensionen veröffentlicht hat. Es gibt noch weitere typische Merkmale, die jedoch weniger eindeutig sind.

Welche denn?

Um Vertrauen aufzubauen, werden detailreiche Geschichten über die Autor*innen erzählt, die aber an bestimmten Stellen unscharf werden. Man nennt Jahrgang und Geburtsort der Autor*innen (typischerweise gleich im ersten Satz), aber über die formelle Ausbildung werden nur vage Angaben gemacht; zum Beispiel, dass er oder sie „im Bereich Psychologie“ an einer „renommierten Universität“ studiert haben. Man offenbart intime Details aus der Kindheit der Autor*innen, aber wo sie aktuell wohnen und was genau sie beruflich machen, wird nicht erzählt.

Außerdem werden die erfundenen Expert*innen häufig als „Bestseller-Autor*in“ bezeichnet. Und nicht selten sind ihre Bücher tatsächlich als „Bestseller Nr. 1“ gekennzeichnet, jedoch in einer völlig unpassenden Kategorie, wie folgendes Beispiel zeigt:

Lakefields Selbstfindungs-Buch ist Beststeller Nr. 1 in der Kategorie Kirchengeschichte Reformation & Gegenreformation.

Kannst du etwas zur Qualität dieser Fake-Ratgeber sagen?

Natürlich habe ich nicht jeden einzelnen Fake-Ratgeber gelesen, aber die, die ich mir angeschaut habe, waren alle ähnlich schwach.

Es klafft eine riesig große Lücke zwischen dem, was auf der Produktseite und in den Rezensionen versprochen wird, und dem, was man tatsächlich bekommt. Es wird Expertenwissen versprochen, aber nach dem Lesen ist man bestenfalls so schlau wie vorher und schlechtestenfalls völlig verwirrt und fehlinformiert.

Einer der wenigen echten Rezensenten eines Fake-Ratgebers schrieb, er habe das Buch in den Müll geworfen, weil er sich schämt, so etwas im Regal stehen zu haben. Das kann ich gut nachvollziehen.

Garantiert echt: Dr. Jan Höpker.

Woher kommen die Fake-Ratgeber?

Ich hatte ein Jobangebot des Publishers gefunden, der hinter dem Pseudonym Matthias Brandt steckt (Loewenstein Bücher&Medien GmbH). Gesucht wurden Student*innen mit guten bis sehr guten Deutschkenntnissen, die bereit waren, innerhalb von drei Wochen Ratgeberbücher zu schreiben; über Themen, die ihnen zugeteilt würden. Die Bezahlung: drei bis vier Cent pro Wort (das entspricht 600 bis 800 Euro für ein komplettes Buch).

Wer ist „Matthias Brandt“? Bild: Amazon-Screenshot

Ich hatte das Jobangebot in meinem Aufklärungsartikel verlinkt. Wenige Stunden später war es mit einer x-beliebigen anderen Stellenanzeige überschrieben worden. Offensichtlich soll um jeden Preis geheim bleiben, wer die Bücher der angeblichen Expert*innen wirklich schreibt: unqualifizierte Billigghostwriter.

Von diesen Textern kann man kaum mehr erwarten, als inhaltsloses Geschwafel und/oder Plagiate. Tatsächlich habe ich einige Fake-Ratgeber gefunden, deren kompletter Inhalt aus abgekupferten Blogartikeln bestand. Es waren lediglich einige Sätze umgestellt und einzelne Wörter durch Synonyme ersetzt worden.

Ironischerweise enthielten diese Fake-Ratgeber ganzseitige Urheberrechtshinweise, in denen Textdieben mit rechtlichen Konsequenzen gedroht wurde.

Wie gefährlich ist das Geschäft mit den Fake-Ratgebern?

Spätestens bei frei erfundenen Psycholog*innen und Ärzt*innen wie Dr. Alessio Rammer ist die Grenze des Erträglichen weit überschritten. Menschen neigen dazu, Informationen und Ratschläge, die sie von (vermeintlichen) Expert*innen erhalten, weniger zu hinterfragen. Doch schlechte Ratschläge bezüglich Krankheiten, Beziehungen, Geld und anderen sensiblen Themen können große Schäden anrichten. Fake-Ratgeber können ihren Leser*innen auch indirekt schaden, etwa wenn die Leser*innen nicht den Rat und die Informationen erhalten, die sie im Buch eines echten Experten gefunden hätten.

Einige dieser Publisher gehen menschenverachtend mit Kritik um. Anstatt negative Rezensionen von echten Käufer*innen zum Anlass zu nehmen, die Bücher zu verbessern, kauft man lieber nützlich-Klicks auf positive Rezensionen, um die negativen Rezensionen von der ersten Seiten zu verdrängen. Man erkennt das daran, dass alle Rezensionen auf der ersten Seite eine fast identische hohe Anzahl an nützlich-Bewertungen haben. 

Auch gibt es immer mehr gefakte Drei-Sterne-Rezensionen. Das Buch wird in den Himmel gelobt, erhält aber aus völlig absurden Gründen nur drei Sterne, etwa weil es kein Hörbuch gibt, weil der Paketbote unfreundlich war oder weil das Buch keine Ratschläge speziell für Menschen über 80 enthält.

Du hast viel recherchiert, hast du auch mit jemandem bei Amazon dazu gesprochen?

Amazon weiß Bescheid. Schon 2015 hatte Jeff Bezos‘ eigene Zeitung, The Washington Post, über genau diese Art von Betrug berichtet.

Trotzdem habe ich Amazon mehrmals per Email über verschiedene Beobachtungen informiert. Mir wurde versichert, dass man Betrugsversuche ernst nimmt und meinen Hinweisen nachgehen wolle. 

Anfang Juni 2020 waren fast alle mutmaßlich gekauften Rezensionen der Fake-Ratgeber plötzlich verschwunden. Es war interessant zu sehen, wie vernichtend die Durchschnittbewertung vieler Fake-Ratgeber ohne die gekauften Rezensionen war. Doch nach wenigen Tagen sind die gelöscht geglaubten Rezensionen wieder aufgetaucht. Über die Hintergründe dieser Aktion ist mir nichts bekannt.

Was ist dein Wunsch für die Zukunft, um den Fake-Ratgebern den Garaus zu machen?

Das Problem ist, dass Wettbewerbsverstöße und Verbrauchertäuschungen von Normalbürgern nicht angezeigt werden können – nur Wettbewerber können dagegen vorgehen, indem sie abmahnen und notfalls klagen.

Ich würde mir wünschen, dass sich zum Beispiel die Verbraucherzentralen, große Verlage, die Wettbewerbszentrale oder Amazon selbst darum kümmert.

Und bis dahin sollte das Problem mehr mediale Aufmerksamkeit bekommen, damit möglichst viele Menschen, die Rat suchen, vor den Lügnern gewarnt sind.

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