Green & Sustainability Die Grünen sind zutiefst verunsichert. Warum rufen sie sonst ständig nach dem Staatsanwalt?

Die Grünen sind zutiefst verunsichert. Warum rufen sie sonst ständig nach dem Staatsanwalt?

Habeck, Baerbock und Co. reagieren neuerdings harsch, wenn sie sich beleidigt fühlen. Das ist ihr gutes Recht. Allerdings macht die Klagewelle stutzig, die sie gerade lostreten. Warum sind sie so dünnhäutig geworden?

Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit beschimpfen anonyme Kommentatoren auf Social Media-Kanälen alle die, die anders denken als sie. Lieblingsopfer sind derzeit grüne Politiker. Doch die wehren sich. Ein Mann aus Bayern, der Wirtschaftsminister Robert Habeck einen „Vollpfosten“ genannt hat, muss 2100 Euro Strafe zahlen. Annalena Baerbock zieht gegen einen X-User gerichtlich zu Felde, der sie als die „dümmste Außenministerin der Welt“ bezeichnet hat. Klar: Niemand muss sich alles gefallen lassen. Aber: Übertreiben sie jetzt, die Grünen? Sind sie mit einmal hypersensibel geworden? Und tun sie sich damit eigentlich einen Gefallen?

Die Partei hat in ihren eigenen Reihen eine prominente Vorkämpferin gegen Hetze im Netz: Renate Künast. Die ehemaliger Landwirtschaftsministerin hatte 1986 im Berliner Abgeordnetenhaus einen Zwischenruf gewagt, der Rechtsgeschichte machte. Eine Parteikollegin war gefragt worden, wie sie zur Forderung der NRW-Grünen stehe, sexuelle Handlungen an Kindern straffrei zu stellen. Dazu notierte das Protokoll einen Zwischenruf Künasts: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist“- was offenkundig als Präzisierung der kolportierten Grünen-Forderung aus NRW gedacht war. 30 Jahre später – die Debatte über die einstige Haltung der Grünen zur Pädophilie war wieder hochgekocht – legte ihr ein Netz-Aktivist den Satz in den Mund: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kindern doch ganz o. k. Ist mal gut jetzt.“

Künast zog vor Gericht, und im Zuge des Prozesses wurde sie mit zahlreichen Hassposts überzogen. Sie verlangte von Facebook Auskunft über die Bestandsdaten der Nutzer – aber in einem ersten Urteil hielt das Landgericht Berlin im Jahr 2019 eine lange Liste solcher Kommentare für zulässig, darunter „Dreckschwein“, „Drecks Fotze“ und „Stück Scheisse“. Auf Künasts Beschwerde korrigierte das Landgericht sich teilweise, und das Kammergericht hielt in der nächsten Instanz weitere Posts für beleidigend.

Das von Künast schließlich angerufenen Bundesverfassungsgericht beanstandete im Jahr 2022 die Wertung des Kammergerichts zu den zehn für zulässig erachteten Posts. Darunter die Formulierungen „Pädophilen-Trulla“, „Die alte hat doch einen Dachschaden, die ist hol wie Schnittlauch man kann da nur noch“ und „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“. Zwar habe die Meinungsfreiheit zum Schutz von „Machtkritik“ nach wie vor ihre Bedeutung. Allerdings erlaube sie „nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgerinnen und Amtsträgern“, urteilten die Richter, forderten dazu auf jeden Einzelfall zu prüfen und stärkten so das Persönlichkeitsrecht der Politikerin. Ihre Begründung: „Eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist.“

Das Ganze ist – wie gesagt – Geschichte. Die Affäre stammt aus einer Zeit, in der die Grünen als fortschrittlich und aufmüpfig galten. Künast ist eher Generation ruppiger Joschka Fischer als die smarte Generation Habeck und Baerbock. In den 30 Jahren, die dazwischen liegen, hat sich die Wahrnehmung der Grünen gewandelt. Nicht zuletzt ihr kompromissloser Einsatz für den Klimaschutz lässt sie als eine Partei erscheinen, in der die Rebellen den Platz geräumt haben für eine Clique, die mit Verordnungen und Verboten regiert. Wenn so beleumundete Politiker auch noch nach dem Staatsanwalt rufen, wenn sie „Vollpfosten“ genannt werden, liegt ein Verdacht nahe: Hier sind zutiefst verunsicherte Politiker am Werk, die sich nur noch mit dem Rückgriff auf die Staatsgewalt zu helfen wissen. Besser wäre, auch sie überlegten im Einzelfall, ob sie gerade mit Kanonen auf Spatzen schießen und sich damit dem Spott der Leute aussetzen. Sie ersparten damit auch sich manche Blamage.

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