Life & Style São Paulo auf Speed: Dieser Motorradfahrer ist Lieferheld und Youtube-Star

São Paulo auf Speed: Dieser Motorradfahrer ist Lieferheld und Youtube-Star

Furchtlose Motoboys sind das logistische Rückgrat der Metropole. Moacir da Silva Lima wurde mit Clips seiner halsbrecherischen Lieferfahrten zum Youtube-Star. Von Andrzej Rybak

Auf der Avenida 23 de Maio stockt São Paulos Verkehr am Vormittag, vier Spuren nebeneinander, alles schleicht vor sich hin. Ab und zu rollt es ein paar Meter, dann Ende: Stop-and-go. Früh am Morgen hat es leicht geregnet, prompt brach der Berufsverkehr zusammen – und Moacir da Silva Lima kann das gar nicht gebrauchen, der ist jetzt schon zu spät. Das Hörgerät muss zum Empfänger. „Ja, der Verkehr hier ist schon verrückt“, sagt Moacir unter dem Motorradhelm hervor und grinst. „An manchen Tagen gibt es in der Stadt 300 Kilometer Stau.“

Stau? Nicht für Moacir. Der steuert mit 60 Stundenkilometern seine Yamaha Factor in den winzigen Spalt zwischen den rollenden Autos. Immer wieder kurvt er nach rechts, dann wieder nach links, nutzt jeden Zentimeter, der sich ihm bietet. Er flitzt hauchzart an den Außenspiegeln der Autos vorbei, was für ihn kein Grund ist, die Fahrt zu verlangsamen. Im Gegenteil: Hupen, Fluchen, scharf abbremsen, erneutes Fluchen, dann wieder beschleunigen. Die Fahrt durch den „Tunnel“, wie die Motorradfahrer die Gasse zwischen den Autokolonnen nennen, geht weiter.

„Ich liebe den Nervenkitzel“, sagt Moacir. Klar. Jetzt aber erst mal das Hörgerät. Moacir hat keine Zeit zu verlieren. Er hat gerade bei einem Medizintechniker in Vila Mariana das Ding abgeholt und muss es zum Kunden im rund 15 Kilometer entfernten Bairro Socorro bringen. Die Fahrt führt am neoklassischen Ipiranga-Palast sowie am Unabhängigkeitsdenkmal vorbei. Doch Moacir würdigt die Bauten keines Blickes, stattdessen weicht er einem Lastwagen aus, der eine schwarze Abgaswolke in den Himmel bläst. Immer wieder fährt er auf die Gegenfahrbahn, wenn kein Auto entgegenkommt, schert wieder ein, wenn es eng wird. Das ist Moacirs Stadt, wird es einem bewusst – erst in der Nähe des Ziels schaltet er sein Navi ein, um die genaue Adresse zu finden.

Tagelöhnerjob Motoboy

Der Kunde wartet ungeduldig in der Eingangstür auf die Lieferung, er hätte schon längst an der Arbeit sein müssen. Moacir lässt sich den Lieferschein quittieren und steigt zurück auf die Factor. Nicht, ohne – wichtig! – die GoPro am Helm einzuschalten.

Der 38-jährige Moacir ist einer von rund 100  000 Motoboy genannten Motorradkurieren, die das Leben in der brasilianischen Megametropole in Bewegung halten. São Paulo bildet den größten Ballungsraum der südlichen Hemisphäre, 100 mal 100 Kilometer groß, der von schätzungsweise 25 Millionen Menschen bewohnt wird. Sieben Millionen Autos und 20  000 Busse verstopfen täglich die Straßen.

Tag und Nacht kämpfen sich die Motoboys durch die Staus, um lebensrettende Medikamente, dringend notwendige Ersatzteile und wichtige Dokumente schnell auszuliefern. „Für Fahrräder ist die Stadt einfach zu groß“, sagt Moacir, ein groß gewachsener Mann mit dunkelblondem Haar und einem lichten Bärtchen. „Mit dem Wagen kann man es gleich vergessen. Bleibt nur das Motorrad.“

Überall in São Paulo gibt es Dutzende Motoboy-Agenturen. Sie versprechen Schnelligkeit – und dementsprechend heißen sie auch Super Jet Express, Fenix oder Eagle Delivery. Arbeit gibt es immer. Wer aus der Provinz kommt und nichts anderes findet, heuert als Motoboy an. „Den Job kann jeder machen“, sagt Moacir und fügt hinzu: „Jeder, der Mumm hat.“

Doch der Job ist gefährlich. Statistisch betrachtet sterben jeden Tag zwei Motoboys bei Unfällen im dichten Stadtverkehr. Auch Moacir hatte bereits mehrere Unfälle, wenn auch keinen richtig lebensgefährlichen. Einmal ist er während der Fahrt eingeschlafen, rammte vier Autos. Einen Unfall hat er mit seiner Helmkamera filmen können: Ein anderes Motorrad kreuzte die Straße und blieb plötzlich stehen – er konnte nicht mehr ausweichen. „Aber ich habe mir noch nie etwas gebrochen“, sagt er stolz.

Moacir stammt aus einer armen Familie. Schon mit zwölf begann er zu arbeiten, zuerst als Gehilfe in einer Tischlerei, dann mit 14 als Laufbursche. Die Schule war unwichtig, erst mit 25 machte er seinen Hauptschulabschluss. Mit 16 kaufte er seine erste Maschine, die damals genauso alt war wie er. Er fuhr zwei Jahre ohne Führerschein und hatte Glück – niemand hielt ihn an.

Moacir: Star der Motoboy-Szene

Jetzt transportiert er alles, was sich in einer 30 Liter fassenden Kiste verstauen lässt, die er hinter sich auf das Motorrad montiert hat. Die Kiste hat er gelb gestrichen und mit schwarzen Punkten bemalt, wie das Fell eines Jaguars. Sie ist nun sein Markenzeichen, wie auch sein bunter Helm, auf den eine Uhr gemalt ist. Eine Zeitlang war die Kiste der Bannerhintergrund für seinen Youtube-Kanal.

Denn mittlerweile ist er ein Star der Motoboy-Szene. Vor drei Jahren begann Moa­cir, seine Lebensmüdigkeit nahelegenden Fahrten zu filmen und die kurzen Videoclips auf Youtube hochzuladen. Schnell wuchs die Fangemeinde, die nicht genug davon bekommt, wenn er dauerquatschend und fluchend an Außenspiegeln vorbeischrammt. Die Videos werden im Schnitt 50  000-mal geklickt. Seine Fahrt mit der starken Yamaha Hornet 600 fand sogar eine halbe Million Zuschauer – Rekord. Moacir: „Ich hatte während der Fahrt echt Schiss, ich bin nie zuvor mit so einem schweren Motorrad gefahren.“

Inzwischen hat er rund 1 000 Videos produziert, die insgesamt über 18 Millionen Mal geklickt wurden. Über 130  000 Nutzer haben seine Beiträge abonniert. „Manche Leute wollen meine Fahrkünste bewundern, andere mögen meine Art von Humor“, sagt Moacir, der sich auf Youtube Motoka Cachorro nennt. „Ich mache fast jeden Tag einen Film.“ Youtube weiß es zu schätzen und überweist ihm etwas Geld, meist zwischen 150 und 250 Dollar im Monat.

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