Leadership & Karriere Dein Leben ist dein Kapital: Casey Neistat – vom Tellerwäscher zum YouTube-Millionär

Dein Leben ist dein Kapital: Casey Neistat – vom Tellerwäscher zum YouTube-Millionär

Neistat ist 15, als er sich auf radikale Weise emanzipiert. Seine Mutter und er streiten sich, mal wieder, der Grund ist nebensächlich, Pubertät eben. „Mach, was ich sage! Oder verlass das Haus“, ruft Amy Neistat. Ein Dienstagabend, gegen 21 Uhr, daran erinnert er sich noch heute, und Casey packt seinen Rucksack und quartiert sich bei Freunden auf der Couch ein. Nach zwei Wochen findet er ein billiges Zimmer in einer WG mit zwei Frauen – und zieht nie wieder zurück ins Elternhaus. „Meine Mutter hat mir dieses unfaire Ultimatum gesetzt. Wäre ich zurückgegangen, hätte ich verloren“, sagt Neistat. Er kifft, trinkt, verlässt die Ledyard High School, noch bevor er die zehnte Klasse beendet hat, und zieht mit seiner Freundin Robin zu seinem Bruder Van nach Virginia. Im Sommer 1997 ist Robin ungeplant schwanger. Das Paar zieht zurück nach Connecticut und haust in einem brüchigen Wohnwagen, als Sohn Owen zur Welt kommt.

Während andere Jungfamilien unter zu viel Verantwortung und zu wenig Geld kollabieren, blühen Neistat und seine Freundin auf. „Bei Owens Geburt habe ich mich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen gefühlt“, erinnert sich Neistat. „Wir waren damals so verdammt arm. Aber Owen war für mich immer eine Energiequelle.“ Seine erste Schicht in einem Seafood-Restaurant läuft von 16 Uhr bis Mitternacht, die zweite von 10 bis 14 Uhr, doch weil er nur mickrige 8 Dollar pro Stunde verdient, ist er weiter auf Sozialhilfe angewiesen. Und dennoch sagt Neistat heute: „Sobald du ein Kind hast, lebt man nicht nur für sich selbst. Man hat eine größere Aufgabe. Ich habe diese Verantwortung immer gesucht und jede Sekunde genossen.“ Die kurzen Momente mit seinem Sohn im Wohnwagen hält Neistat auf Video fest. Nach drei Jahren trennt sich Robin von ihm, „ aus guten Gründen“, wie er lediglich sagt.

KÜNSTLERROMANTIK? FUCK YOU!

Im Sommer 2001 endlich stillt Neistat die große Sehnsucht New York. Er findet eine WG im East Village. Der Plan: Filmemacher werden. Die Realität: Neistat arbeitet als Fahrradkurier und fällt nachts erschöpft in ein Futon, das so klein ist, dass er seine Beine anwinkeln muss. „Es war die härteste Zeit meines Lebens. Ich konnte mir kaum Essen leisten“, sagt Neistat. Doch zusammen mit seinem Bruder Van, der mittlerweile auch in New York lebt, drehen sie in der Freizeit unbeirrt Videos und erwischen ab und an Aufträge als Kameramänner für Geburtstage. „Wir haben gefilmt, gefilmt, gefilmt, alles, was geht. Und zum ersten Mal habe ich gespürt, dass ich eine Stimme habe“, sagt Neistat.

Die Masse hört seine Stimme erstmals im September 2003. Neistat veröffentlicht ein dreiminütiges Video, das er „iPod’s Dirty Secret“ nennt. Das schmutzige Geheimnis des iPods ist seine Batterie, die nur 18 Monate hält und nicht austauschbar ist. Weil Youtube erst anderthalb Jahre später gegründet wird, bastelt Neistat von Wut getrieben extra eine Website für das Video. Der Aufwand lohnt sich: eine Million Views in sechs Tagen. „Nach ,iPod’s Dirty Secret‘ waren die Leute an meiner Arbeit interessiert“, erzählt Neistat, der zu dieser Zeit im Studio des Installationskünstlers Tom Sachs arbeitet. Gegen die Romantisierung des Künstlerdaseins wehrt er sich heftig: „Ich habe gearbeitet. Immer. Deshalb sage ich allen Leuten, die sich berechtigt fühlen, nur rumzusitzen und sich kreativ zu fühlen: Fuck you!“

WENN DU AUF DIE WELTBÜHNE WILLST: MACH MAINSTREAM

2008 gelingt Neistat der kommerzielle Durchbruch. Der Sender HBO kauft ihm und seinem Bruder Van für knapp 2 Mio. Dollar eine Serie mit acht Episoden à 25 Minuten ab. „The Neistat Brothers“ wird ein Hybrid aus der Sitcom „Hör mal, wer da hämmert“ und dem Abenteuerfilm „Into the Wild“. Die Brüder testen und reparieren Geräte aller Art, besteigen Berge und erforschen ihre Familiengeschichte. „Sie haben uns im Grunde machen lassen, was wir wollen“, sagt Neistat im Rückblick. Mit seinem Bruder arbeitet er heute nicht mehr zusammen. „Wir hatten irgendwann sehr verschiedene Visionen. Er sieht sich eher als bildenden Künstler. Ich dagegen will so viel Mainstream wie möglich“, sagt Neistat. Mainstream bedeute Bestätigung. Und Bestätigung, so Neistat, bedeute, dass sich der Kampf gelohnt hat. „Nehmen wir David Bowie. Der hat nicht in irgendwelchen Kellern in Brooklyn geträllert, er stand auf der Weltbühne. Und das ist mein Anspruch.“

Casey Neistat | Business Punk Photo by Bryan Derballa
Herrlich, als Herr im Haus kann einem niemand den Ollie im Office verbieten. Für alle weiteren Fälle von Energieüberschuss hat Neistat das Büro mit Gymnastikringen und einer Boxstation ausstatten lassen.

Casey Neistat, mehrfacher Ironman-Triathlet, wirkt in seinen Videos und im Interview wie aufgezogen, als hätte er einen übermenschlichen Energiehaushalt. Man will sich ihn nicht ohne frühmorgendliches Joggen vorstellen. Es ist eine Sucht geworden – und einer der wenigen Momente, in denen er seine Ruhe will. Auf seinem Laufshirt steht: „No, you can’t have a selfie.“ Im Normaltempo kann der Ironman-Teilnehmer keine zehn Meter gehen, ohne von Fans angesprochen zu werden. New York, seine große Liebe, liebt ihn zurück. Und nicht nur die. Auch für Werbekunden ist er ein begehrenswerter Messenger geworden – vor allem wenn die Botschaft in Richtung „Lebe deinen Traum“ gehen soll.

Für Nike hatte Neistat bereits konventionelle Spots gedreht, als der Sportartikelhersteller ihn 2012 für die #makeitcount-Kampagne beauftragte. Das Budget nutzte er lieber für eine Weltreise mit seinem Freund Max in 13 Länder, bis das Geld aufgebraucht war (nach zehn Tagen). Der Clip dazu wurde legendär, gehörte lange zu den am meisten im Internet angeschauten Werbefilmen überhaupt. „Ein großartiger Weg, einen so beliebten Youtube-Kanal wie meinen auszunutzen“, sagt Neistat halb ironisch über Branded Content, betont aber: „Meine Filme mache ich bis heute aus Neugierde heraus. Ich habe Geld verdient, um Filme machen zu können. Nicht Filme gemacht, um Geld zu verdienen.“

Einen ähnlichen Stunt im Storytelling legt er hin, als Twentieth Century Fox ihm 2013 ein Budget von 25 000 Dollar anbietet, um für den Ben-Stiller-Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ ein Promovideo zu produzieren. Neistat schlägt ein – unter der Bedingung, dass er mit dem Geld auf die Philippinen fliegen kann, um Katastrophenhilfe für Taifun-Opfer zu leisten. Neistat filmt sich dabei, wie er Busse organisiert, mit Tausenden Konservenbüchsen belädt und lächelnde Kinder in den Arm nimmt. Vielleicht ein arg vereinfachendes Bild von scheinbar so einfacher ärmelhochkrempelnder Direkthilfe – für das Filmstudio zumindest ist es die perfekte inspirierende Inszenierung.

Seite 2 / 3
Vorherige Seite Nächste Seite

Das könnte dich auch interessieren

3 Hacks, wie ein Unternehmen zur echten People Company wird Leadership & Karriere
3 Hacks, wie ein Unternehmen zur echten People Company wird
Startup-Retter: Die Geheimwaffe gegen überflüssigen Ballast Leadership & Karriere
Startup-Retter: Die Geheimwaffe gegen überflüssigen Ballast
Stille Stärke im Job: Introversion als Karrierevorteil Leadership & Karriere
Stille Stärke im Job: Introversion als Karrierevorteil
Arbeiten ohne Chef: Der neue New Work Trend? Leadership & Karriere
Arbeiten ohne Chef: Der neue New Work Trend?
Homeoffice und Karriere – Chancen und Risiken im Berufsleben Leadership & Karriere
Homeoffice und Karriere – Chancen und Risiken im Berufsleben