Leadership & Karriere Crime: Maria Licciardi – die Konzernchefin der Camorra

Crime: Maria Licciardi – die Konzernchefin der Camorra

Der Sturz von der wirtschaftlich Mächtigen zur verurteilten Kriminellen kommt manchmal abrupt. Vor allem, wenn man in der Halbwelt agiert. Doch Mafiosi können smarte Geschäftsleute sein – auch, wenn ihr Beispiel nicht gerade zum Folgen einlädt. In unserer Reihe Business Punk Crime schicken wir die Fälle berühmter Verbrecher in die Revision. Dieses Mal: die Camorra-Patin Maria Licciardi.

Am 9. Juni 2000 kreisen Helikopter über Neapel. Im scheinbar gottvergessenen Vorort Secondigliano marschieren hunderte schwer bewaffnete Polizisten durch die Straßen, Teile der Stadt gleichen einem Kriegsgebiet. Seit Anfang des Jahres wurden 53 Menschen ermordet, 15 allein in den vergangenen neun Tagen. Die Polizisten stürmen schließlich ein baufälliges Haus. Im Inneren finden sie dutzende Überwachungskameras, schicke Marmorböden, ein großes Piano, einen Jacuzzi, aber nicht sie. Maria Licciardi, die seit mehr als zwei Jahren kein uniformierter Mensch mehr gesehen hat, ist nicht da. Der Tipp war kalt.

Ganz Italien will damals Maria Licciardi haben. Die Vorständin eines multinational agierenden und milliardenschweren Konglomerats gehört zu den 30 meistgesuchten Personen Italiens und ist für die Toten verantwortlich. Maria Licciardi, eine ruhige, total unscheinbare Frau, genannt „la Piccolina“, die Kleine, hat einen Krieg entfacht. In Neapel wird wieder gestorben, so wie früher.

Kein Rampenlicht für Maria Licciardi

Dabei deutet bis zu einem Tag zwei Jahre vor der Razzia nichts darauf hin, dass Licciardi in ihrem Leben jemals auch nur einen Kaugummi geklaut hätte. Niemand wusste, dass sie schon seit Jahren eine führende Patin der Camorra war, Kopf des mächtigen secondiglianischen Licciardi-Clans und quasi Konzernchefin der aus mehr als 20 weiteren Familien bestehenden Alleanza di Secondigliano. Sie war es, die die Allianz um neue Geschäftsfelder erweiterte und überhaupt erst so professionalisierte, dass ihre Umsätze denen riesiger Enterprises in nichts nachstanden. Es war ein stiller Aufstieg ohne Öffentlichkeit. Weibliche CEOs der Mafia kennen keinen Starkult.

Entsprechend verwundert ist die Polizei, als sie Licciardi Anfang 1998 bei einer Verkehrskontrolle mit 300 Mio. Lire erwischen, umgerechnet etwa 155.000 Euro. Die Ermittler gehen damals davon aus, dass es sich um Schmiergeld für einen der zahllosen korrupten Politiker handelt, und Licciardi nur als Botin ihres Clans fungiert. Nachdem ihre Anwälte sie freibekommen taucht sie unter. Erst später wurde den Ermittlern klar, was für eine Bedeutung Maria Licciardi im camorristischen System Neapels hatte.

Il Sistema

Maria Licciardi wird 1951 als Tochter eines bekannten Bosses des Systems von Secondigliano geboren. System, das ist die ökonomische Infrastruktur eines Ortes, der wirtschaftliche Apparat, der identisch ist mit der kriminellen Organisation, wo alles miteinander verwoben ist. Ein feinmaschiges, durchhierarchisiertes und perfekt funktionierendes Netz von Boten und Wachposten, örtlichen Dealern, Pushern, Leibwächtern und Zuhältern. Ausgeworfen und gemanagt wird dieses Netz von den lokalen Capozonas, die die verschiedenen militärischen und wirtschaftlichen Geschäftszweige leiten. Wo, wie und wann etwas gemacht wird entscheiden die Bosse. Ein komplett analoges Wirtschaftssystem, das auf Wegwerfhandys beruht, im Schatten der heruntergekommenen Sozialwohnhäuser, auf deren Dächern die Wachen Ausschau nach Carabinieri halten. In einer Gegend, die schon immer so perspektivlos war, dass die Camorra als alternatives Sozialsystem überhaupt erst entstehen konnte. Die Menschen nennen Secondigliano auch „Terzo Mondo“, dritte Welt.

Licciardis Bruder Gennaro, genannt „a scigna-la scimmia“, der Affe, transformierte in den 80er Jahren den trostlosen Ort in einen Drogensupermarkt, was der Journalist Roberto Saviano in seinem Investigativ-Meilenstein „Gomorrha“ eindrücklich beschreibt: „Die Familie Licciardi verwandelte diese Gegend, die höchstens billige Hilfskräfte lieferte, in eine Maschine für den Drogenhandel: in ein internationales kriminelles Unternehmen. Tausende wurden kooptiert, als Mitglieder aufgenommen und im System zerschlissen. Textilindustrie und Drogen.“ Dann starb Gennaro Licciardi 1994 im Gefängnis an einer Blutvergiftung.

Die segelförmigen, heute stark heruntergekommenen Vele di Scampia sind das Symbol einer gescheiterten Stadtentwicklungspolitik. Foto: Wikipedia

Schon zu diesem Zeitpunkt war Maria Licciardis Machtstellung im Clan unangefochten. Vor Gericht beschrieb ein Zeuge einmal, dass sie schon immer Gennaros Stellvertreterin war. „Sie überbrachte seine Befehle und Nachrichten, sogar die von größter Wichtigkeit. Mehr als einmal übermittelte sie seine Tötungsbefehle,“ erinnerte sich der Zeuge. „Mit Maria Licciardi zu sprechen war dasselbe wie mit Gennaro zu sprechen“. Daher war es nur logisch, dass sie nach dem Tod ihres Bruders nachrückte und sämtliche Geschäfte des erweiterten Licciardi-Clans und als dessen Boss auch die Führung der secondiglianischen Allianz übernahm, zu deren Gründungsmitgliedern Gennaro zählte.

Licciardi ist ein kühler Kopf, extrem intelligent und berechnend. Sie meidet Aufmerksamkeit wie Maulwürfe das Licht und gründet darauf ihren Führungsstil. Nicht einmal, als ihr Neffe Vincenzo „il principe“ Esposito wegen einer Verwechslung vom Motorrad geschossen wird, macht sie sich selbst die Hände schmutzig. Trotzdem sterben in wenigen Tagen darauf 14 Menschen. Die Macht Marias und ihres Clans war so stark, dass sie von den anderen Clans verlangen konnte, sich selbst um die Verantwortlichen zu kümmern, die letztlich unter deren Befehl standen.

Fünf Jahre lang sollte es durch Licciardis Bedachtsamkeit relativ ruhig in Neapel bleiben. Sie schwor die Bosse der Allianz auf ihre Führung ein und argumentierte, dass territoriale Streitigkeiten vor allem Leichen bedeuteten und damit finanzielle Verluste. Besser also, zu kooperieren und die Gewinne zu teilen. Eine wirtschaftlich logische Überlegung, die die Idee des freien Handels ihres Bruders weiterführte. „Sie hatte Recht und die anderen Familien wussten das, also hörten sie auf sie“, sagte ein Mafia-Experte dazu einmal der britischen Tageszeitung „Guardian“.

Tote bedeuten Aufmerksamkeit

Licciardi integrierte und professionalisierte die verschiedenen Geschäftszweige des Drogenhandels, der Schutzgelderpressung, des Waffen- und Zigarettenschmuggels und erschloss die Prostitution als neues Geschäftsfeld, wodurch das Bündnis dominierende Kontrolle über den neapoletanischen Markt erlangte. Außerdem unterstanden der Allianz Textilunternehmer von Firmen wie Valent, Vip Moda oder Vocos, die perfekt gefälschte Markenklamotten produzierten. Sie waren von Valentino, Versace oder Armani nicht unterscheidbar, weil sie am Ende von denselben Händen in der neapolitanischen Peripherie genäht wurden. Echte Fälschungen.

Die überaus smarte Licciardi ist da längst nicht mehr „die Kleine“, sondern wird mittlerweile „La Principessa“ oder „La Madrina“ genannt. Zu keinem Zeitpunkt unterschätzte sie den brüchigen gemeinsamen Untergrund, auf dem die Allianz gebaut war: Profit. Dieses Fundament bekam schließlich Risse, als es zu Unstimmigkeiten über eine Drogenlieferung kam. Im Frühjahr 1999 gab sie Anweisung, eine aus Istanbul eingetroffene Heroinlieferung zurückzuschicken. Das Rauschgift war noch nicht raffiniert und damit zu stark für die Junkies, die, einmal in Umlauf gebracht, wie die Fliegen sterben würden. Die Sorge um Wirtschaftlichkeit führt Licciardi zu dieser Entscheidung: Tote bedeuten Aufmerksamkeit, bedeuten Polizei und Ermittlungen, bedeuten ausbleibende Kundschaft. Aber nicht alle wollten das einsehen.

Ein Feature über die „Godmother of Crime“ Maria Licciardi und ihren Führungsstil.

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Denn in Secondigliano interessiert ein toter Junkie niemanden. Eine weitere arme Sau, die am Straßenrand liegt und an einer Überdosis krepiert ist. Die Polizei wird „dose eccessiva“ eintragen, und damit hat es sich. Ohnehin benutzt die Camorra seit jeher sogenannte Visitors, um herauszufinden welche Verschnitte einer Drogenlieferung schädlich sind und wie weit man sie strecken kann. Visitors sind nach der Fernsehserie „V“ benannt, deren Protagonisten Ratten fressen. An die Verzweifeltsten unter ihnen werden Gratis-Proben verteilt. Stirbt der Visitor, muss eben nachjustiert werden.

Aber nicht bei dem türkischen Heroin. Das sollte gar nicht verkauft werden, denn es würde zu viele tote Junkies geben. Und außerdem: Die Rich Kids aus Neapel und Rom sind keine Rattenfresser. Wenn die in den Clubtoiletten plötzlich anfingen zu sterben, fingen die Leute an zu fragen wieso. Aber die Lo Russo widersetzten sich Licciardis Entscheidung und vertrieben das Heroin an ihren Dealing-Spots. Innerhalb weniger Tage waren die Straßen mit toten Junkies übersät, allein elf starben im April.

Licciardi wusste, dass die Camorra immer dann am mächtigsten war, wenn sie nicht in den Schlagzeilen auftauchte. Nach den vielen Drogentoten passierte aber genau das, was Licciardi nie wollte: die Öffentlichkeit richtete ihr Auge auf Secondigliano. Die Straßen waren wieder voll mit Polizisten, es gab täglich Razzien und Verhaftungen. Die ohnehin fragile Allianz zerbrach in eine offene Feindschaft, die alte Territorialstreitigkeiten wieder hochkommen ließ.

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