Productivity & New Work Frederik Neuhaus: „Die meisten Leute haben keinen Überblick darüber, wie viel sie arbeiten“

Frederik Neuhaus: „Die meisten Leute haben keinen Überblick darüber, wie viel sie arbeiten“

Das Bundesarbeitsgericht hat im September vergangenen Jahres beschlossen, dass Firmen verpflichtet sind, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeitenden zu erfassen. Der anschließende Diskurs über das Urteil erstreckt sich von „das zerstört jegliche Flexibilität“ bis hin zu „na endlich“.

Wie genau die Zeit erfasst werden muss, das ist bislang noch nicht geklärt. Tools gibt es aber einige. Eines zum Beispiel ist das Startup Clockin, das digitale Zeiterfassung per App anbietet und bereits in vielen KMUs verwendet wird. Wir haben mit CEO Frederik Neuhaus über das Thema Zeiterfassung gesprochen, was große Unternehmen diesbezüglich vom Handwerk lernen können und auf welche Ideen Behörden kommen.

Im vergangenen Jahr ist das Thema Zeiterfassung ziemlich präsent gewesen. Was war dein erster Gedanke zu dem Gerichtsurteil? 

Jetzt wird es arbeitsintensiv. Es kam für uns nicht ganz überraschend. Wir wussten seit 2019, dass dieses Thema in Deutschland irgendwann kommen wird. Dass das Arbeitsgericht es so intensiv nach vorne getrieben hat, hat uns dann aber doch überrascht. In den ersten Tagen danach haben wir das zehnfache an Anfragen bekommen als normal. Unternehmen, Verbände und Betriebsräte melden sich, um mehr zum Thema Zeiterfassung zu erfahren. 

Warum kommen sie zu euch? 

Wenn man Zeiterfassung bei Google eingibt oder Zeiterfassung per App oder Ähnliches, dann sind wir relativ weit oben. Auf der anderen Seite haben die meisten mittlerweile verstanden, dass Papier nicht die Lösung sein kann. Viele kleine und mittelständische Unternehmen haben alte Systeme im Einsatz, die in den 90er Jahren entwickelt wurden. 

Mit welchen zwei Argumenten würdest du Leute von der Zeiterfassung überzeugen, die dagegen sind? 

Die meisten Leute haben keinen Überblick darüber, wie viel sie arbeiten. Das heißt nicht, dass das mit Zeiterfassung kontrolliert werden soll, es geht viel mehr darum, dass es für alle Seiten transparent ist. Wenn man sich die gesellschaftliche Entwicklung anschaut, dann ist das auch logisch, denn durch das Internet ist alles transparenter geworden. Alles ist dokumentiert und nachzulesen. Ich glaube, dass genau das auch im Arbeitsbereich passiert. Das bedeutet aber Umgewöhnung. Und Umgewöhnung ist immer schwierig. Wenn man mal gesehen hat, wie einfach das ist, geht das aber schnell. Zeiterfassung in der einfachsten Form sind drei Klicks am Tag. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu dem, was an Schlagzeilen produziert wird. 

„Viele Unternehmen profitieren unbewusst von nicht erfassten Überstunden, die ohne eine saubere Zeiterfassung gar nicht auffallen“

Frederik Neuhaus

Ist es tatsächlich so wenig Aufwand? Logge ich mich morgens ein und abends aus und ob ich zehn Minuten am Kopierer stand und getratscht habe, ist egal? 

In der einfachsten Version habe ich die App auf dem Handy schiebe einen Slidebutton nach rechts und bin eingeloggt. Zur Pause drücke ich auf Pause und abends logge ich mich aus. Genau so einfach habe ich mit einem Klick eine Stundenübersicht. 

Und wie genau man erfassen muss, hängt dann vom Gesetz und Arbeitgeber später ab? 

Genau. Es kann sein, dass gewünscht wird, dass alle Pausen auch erfasst werden, weil das Arbeitsschutzgesetz ja auch eine Pause einfordert. Unternehmen können aber auch Zeiterfassung nutzen, um Prozesse zu optimieren. Die meisten wissen ja gar nicht, wie viel Zeit sie in Meetings verbringen oder tatsächlich für Projektarbeit X brauchen. Zeiterfassung ist etwas, was schon längst in Unternehmen passieren müsste.

Blöd ist es dann für die Menschen, die tendenziell weniger arbeiten als andere. 

Das ist eine Rückmeldung, die wir zwischendurch tatsächlich bekommen, dass tatsächlich innere Diskurse über die Arbeitszeit aufkommen, weil man für Mitarbeitende, die immer länger Pause machen oder immer früher gehen, letztlich auch mitarbeitet. Vor allem bei jungen Mitarbeitenden ist es super interessant, wenn sie direkt von der Uni kommen und merken, wie viel 40 Stunden wirklich sind. Ich glaube, Deutschland tut die Diskussion zur Zeiterfassung gut. Viele Unternehmen profitieren unbewusst von nicht erfassten Überstunden, die ohne eine saubere Zeiterfassung gar nicht auffallen.

Was ist der größte Diskurs zum Thema Zeiterfassung, den ihr bei Clockin mitbekommt aktuell?

Es wurden Buchhaltungssysteme und Ähnliches in den letzten Jahren digitalisiert, nicht aber Prozesse mit den Mitarbeitenden. Zu Hause können wir alle mit zwei Klicks etwas auf Amazon bestellen und im Büro müssen sie auf Papier ihren Urlaub einreichen. Das muss geändert werden. 

Beschreib mal Clockin, wie du es noch nicht gemacht hast? 

Wir wollen mit Clockin für Unternehmen und ihren Mitarbeitenden eine App zur Verfügung stellen, über die sie sämtliche Kommunikationsprozesse digital abdecken und damit Prozesse maximal optimieren und vereinfachen. 

„Wir wurden tatsächlich auch angefragt, ob wir ein Angebot per Fax versenden können“

Frederik Neuhaus

Wie kam es zu der Gründung?

Durch Thomas Bittmann. Er hat ein mittelständisches Unternehmen zur Sanierung von Kanälen. Ich habe ihn beim Handball kennengelernt und er erzählte mir, dass seine Mitarbeitenden Aufträge und Zeiten mit Zetteln erfassen. Dann hat ein Mitarbeiter am Tag 10 Aufträge, sammelt sie, verliert die Hälfte und am Ende der Woche geben er und die anderen 34 Mitarbeitenden alle Zettel einer Kollegin im Büro ab. Und sie tippt sie ab, um Buchhaltungsdaten zu erfassen. 

Ich kam da gerade aus dem Silicon Valley und dachte, er macht einen Witz. Ich konnte mir das nicht vorstellen. 

Schon ein bisschen Klischee.

Und dann meinte Thomas, dass es cool wäre, wenn es da eine App gäbe. Dann habe ich recherchiert, nichts auf dem Markt gefunden und bin dann selbst in die Entwicklung gegangen.

Wir haben viele Behörden als Kunden. Bis die so ein System einsetzen, dauert das teilweise zwei Jahre. Andere Unternehmen brauchen da zwei Tage. Wir wurden tatsächlich auch angefragt, ob wir ein Angebot per Fax versenden können. Wir haben nicht mal Papierkörbe im Büro. Wie soll das funktionieren? 

So funktioniert die einfachste Variante von Clockin: Beginnt die Arbeitszeit stellt man den Slider auf grün. ©Clockin

Wie meistert ihr dann genau diese Hürde?

Indem wir die Angst vor komplizierten Systemen nehmen und ihnen zeigen, wie einfach Zeiterfassung sein kann. Wir bieten auch an, unserer App zunächst zu testen. Wir versuchen auch jeden Kunden mindestens einmal anzurufen und zu fragen, ob alles funktioniert. Man muss auf Augenhöhe mit ihnen reden, dann ist das ganz einfach. Bei Behörden ist es komplizierter, weil die internen Prozesse zu komplex sind. Eine Anfrage war auch, ob wir nicht eine CD schicken können mit der Software darauf. Das war vor drei Jahren schlimmer. Heute kommen solche Fragen nicht mehr so oft. 

Aus welcher Branche stammt der Großteil eurer Kundschaft? 

Handwerk und Dienstleistung. Hauptsächlich kleine und mittelständische Unternehmen, in Teilen auch große Konzerne. 

Was können große Unternehmen von mittelständischen und kleineren Unternehmen zum Thema Zeiterfassung lernen?

Viel Vertrauen und Augenhöhe. Verstehen, dass Mitarbeitende mehr sind als ein kleines Rädchen im Getriebe. Da liegt noch viel Potential in der deutschen Wirtschaft. Das haben viele große Unternehmen noch nicht so mitbekommen.

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