Leadership & Karriere Quiet Thriving: Warum das Gegenmodell von Quiet Quitting Blödsinn ist

Quiet Thriving: Warum das Gegenmodell von Quiet Quitting Blödsinn ist

Von Verena Bogner

Ich bin mir sicher, dass viele von euch diese Situation kennen – und wenn nicht aus dem echten Leben, dann zumindest aus Memes. Erzählt man einem Boomer, dass man sich depressed fühlt, zum Beispiel aufgrund der Tatsache, dass die Welt, wie wir sie kennen, gerade in mehrerlei Hinsicht vor die Hunde geht, kommt gut und gerne folgende Antwort: „Geh doch mal wieder ein bisschen an die frische Luft!“ Diese unschlagbare Logik der oberflächlichen Symptombehandlung hat jetzt ein neues Äquivalent aus der Jobwelt. Darf ich vorstellen: Quiet Thriving.

Angelehnt an Quiet Quitting, das den Umstand beschreibt, dass immer mehr Menschen aus Protest gegen Hustle-Culture, schlechte Bezahlung und Co. Dienst nach Vorschrift verrichten und auf das Erledigen von unbezahlten Extratasks bewusst verzichten, soll Quiet Thriving nun den Gegenentwurf darstellen, der unser Leben garantiert besser macht.

Häufig hat Quiet Quitting übrigens nichts mit Kündigung zu tun, sondern mit dem Setzen von gesunden Grenzen, dem Streben nach einer funktionierenden Work-Life-Balance und der Suche nach Erfüllung außerhalb des Arbeitsplatzes.

In Artikeln zum Thema Quiet Thriving heißt es jedenfalls, die innere Kündigung tue unserer Mental Health gar nicht gut, weil wir Menschen darauf ausgelegt seien, Erfüllung in unserer Arbeit zu suchen. Wir fühlen uns dieser Ansicht nach durch Quiet Quitting also unterfordert und ohne Purpose, wie der Sinn des Lebens im Corporate-Sprech so schön dynamisch betitelt wird.

Quiet Thriving hingegen mache alles besser: Um wieder zu einem positiven Verhältnis zu unserem Job zu gelangen, sollten wir unseren Blickwinkel ändern. Man solle die eigene Karriere in einem positiveren Licht sehen und sich dazu aufraffen, von der passiven Snowflake-Attitude endlich wieder ins Macher-Mindset zu gelangen und dem Chef doch einfach mal Änderungsvorschläge zu unterbreiten. What could go wrong?

Die ernüchternde Antwort: Alles could go wrong – oder stay wrong. Denn die echten Probleme sind ja solche, die wir nicht allein anpacken können. Das entlarvt die Blödsinnigkeit des Quiet Thriving: sich mit dem kapitalistischen Rahmen, den wir ohnehin nicht ändern können, abfinden. Klingt doch nach einem zukunftstauglichen Rezept – mit dem Revolutionspotenzial von Linkedin!

Und genau das ist der Punkt: Quiet Thriving ist nicht mehr als ein panisch aus dem Hut gezauberter Gegenentwurf zu Quiet Quitting, der diejenigen unter uns, die mit ihren Jobs unzufrieden sind und die Arbeitswelt vielleicht zum ersten Mal in dieser Größenordnung hinterfragen, schnell wieder in die „richtige“ Bahn lenken soll, bevor sich hier vielleicht sogar wirklich etwas verändert.

Das besonders Perfide an der Erzählung um Quiet Thriving: Sie schiebt wieder mal die Schuld aufs Individuum und versucht, uns einzureden, dass wir bloß ein bisschen optimistischer sein müssen, um brav und glücklich in diesem System weiterfunktionieren zu können. In der „Washington Post“ rät die Psychotherapeutin Lesley Alderman zum Beispiel, die Dinge, die man am Job liebt, auf ein Post-it zu schreiben und dieses regelmäßig zu lesen, um motiviert zu bleiben und nicht ins vermeintlich pessimistische Quiet Quitting abzudriften.

Aber was, wenn es an meinem Job nichts mehr gibt, das ich liebe? Und noch mehr: Was, wenn wir alle damit aufhören würden, uns zu zwingen, unsere Jobs zu lieben, um uns das System, in dem wir arbeiten (müssen), schönzureden? „Es gibt keinen Grund, sich in der Arbeit miserabel zu fühlen“, meint Alderman, die als Erste über Quiet Thriving geschrieben hat. Ob sie jemals in einem Großraumbüro war?

Es gibt an dieser Stelle aber auch gute Nachrichten: Egal, welche klingenden Buzzwords sich Expertinnen im Namen des Kapitalismus einfallen lassen, Quiet Quitting ist gekommen, um zu bleiben – das zeigen zahlreiche Untersuchungen zum Thema. Es handelt sich dabei nämlich um keinen random Tiktok-Trend, der direkt vom nächsten Hype abgelöst wird, sondern um einen Shift, der sich seit Jahren abzeichnet und spätestens seit der Pandemie in vielen Köpfen präsenter ist denn je. Und das ist auch gut so, denn nur so kann sich unsere Arbeitswelt zum Besseren verändern.

Ich hätte da übrigens noch einen Vorschlag für all jene unter euch, die dieses revolutionäre Potenzial vor Augen behalten und lieber nicht am Arbeitsplatz thriven, also aufblühen wollen: Schreibt all die Gründe, euren Job zu kündigen, auf ein (sehr großes) Post-it. Und jedes Mal, wenn ihr es anseht, erinnert ihr euch daran, dass nicht euer Mindset, sondern die Hustle-Culture das ist, woran wir arbeiten müssen.

Dieser Text stammt aus unserer Ausgabe 03/23. Dieses Mal dreht sich in unserem Dossier alles um das Thema Danach. Wie geht es nach einem Fuck-Up oder Wendepunkt im Leben weiter? Außerdem haben wir mit Nationaltorhüterin Merle Frohms gesprochen und die Seriengründerin Marina Zubrod erzählt alles über ihre Hassliebe zum Unternehmertum. Viel Spaß beim Lesen! Hier gibt es das Magazin zum Bestellen.

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