Life & Style Galerien waren gestern: Wie junge Künstler*innen eine ganze Branche aufmöbeln

Galerien waren gestern: Wie junge Künstler*innen eine ganze Branche aufmöbeln

Lange galt: Wer berühmt werden will, muss in den großen Galerien ausstellen. Doch junge Player im Kunstmarkt hebeln nach und nach die alten Gesetze aus. Wer sind sie? Und wie gehen sie dabei vor?

Am 30. Januar 2020 steht Paul Schrader vor Paul Schrader. Torstraße, Berlin, keine Gehminute vom Rosenthaler Platz, dem Berlin-Bubble-Zentrum in Mitte. Es ist die Opening-Feier des neuen Event-Space Workwing. Und an der Wand, von außen gut sichtbar, hinter dem großen Schaufenster, hängt ein gigantisches Bild – von Paul Schrader eben. Viel Blau, Rosa, ein bisschen Rot, Gelb, Violett. Drei mal fünf Meter Seitenlänge. Unter dem Bild steht ein Sofa.

Doch die, die dort sitzen, müssen immer wieder zur Seite rücken. Die Gäste wollen Fotos machen – Fotos mit dem Künstler. Er ist aus Hamburg angereist. Alle scheinen an dem Abend einander zu kennen, alle scheinen an diesem Abend Freund*innen zu sein. Immer wieder also stellt sich Schrader vor sein Bild. Mal mit anderen, mal alleine. Mal lacht er ein bisschen, mal nicht. Er wird umarmt, er umarmt selber. Klick. Die Kameras der Smartphones. Später sagt er: „Ich kann das irgendwie.“ Klar, das Malen. Aber eben auch das fast noch Wichtigere dabei: sich selber und seine Kunst zu vermarkten.

Schrader ist ein Künstler neuen Typs. Einer, der nicht möglich wäre, gäbe es das Internet und die sozialen Medien nicht. Sie sind sein direkter Marketingkanal, sein digitales Schaufenster, wenn man so will. Eines, an dem immer wieder Leute stehen bleiben, ein Like da lassen, die teilen, was er macht. Und wenn das im Real Life dann eine Ausstellung ist, sind es genau die, die dorthin kommen, mit ihm feiern, Fotos und Videos machen – und so sein Werk immer wieder teilen.

Die Feier bei Workwing ist eines dieser Multi­pli­ka­toren-­Events. Die meisten Anwesenden gehören zur Berliner Startup-Bubble. Vermögende, in der Regel junge, bestens vernetzte Menschen, die digital wie auch offline jede Menge Einfluss haben.

Paul Schrader – der Künstler lebt und arbeitet in Hamburg. Foto: Linda Böse

Reichweite fürs Werk

Am Ende des Abends wird fast jeder der Gäste ein Bild mit Schrader oder eines von seinem Kunstwerk auf dem Handy haben, von der Party sowieso – viele werden sie teilen. Es sind Freund*innen und Bekannte mit Reichweite, die Trennlinie zwischen privat und Business ist fein, manchmal gar nicht sichtbar, und eigentlich ist beides beides. Privates Business – und Schrader, der Künstler, nutzt genau das, um seine Kunst zu vermarkten.

Er arbeitet in etwas wie einer digitalen Symbiose mit Leuten, die sich – wenn auch manchmal nur entfernt – kennen und gewogen sind. Ein Foto im Feed hier, eine Story da. Am Ende ergibt das eine gigantische akkumulierte Reichweite, die Schrader nutzen kann, um Kunstinteressierte zu erreichen. Das ist aber nur die eine Seite.

Die andere fasst Schrader so zusammen: „Ich liebe es, die Kontrolle darüber zu haben, wo meine Bilder hängen.“ Vielen Galerien fehle die Magie, sagt er. Bilder, die wie leblos an den Wänden hängen, Sammler*innen und potenzielle Käufer*innen und die, die sich einfach für Kunst interessieren. Sie stehen da, sehen sich an, was es zu sehen gibt. Und meistens gehen sie wieder. Ein vergleichsweise lebloser Prozess. Das heiße nicht, dass Galerien keine Berechtigung haben – das heißt aber, dass er seine Ausstellungen lieber selber organisiert.

In kurz: Schrader hat eine andere Idee davon, wie seine Fans Zugang zu seinen Bildern haben dürfen – und wie sie wirken sollen. „Wir haben uns zum Beispiel mal den Kaispeicher in Altona gemietet“, sagt er – darin ein Whitecube. Mittags können die kommen, die einfach nur die Kunst erleben wollen. An den Abenden wird dann aufgelegt, „da spielt dann eben Erkan von Fünf Sterne deluxe“.

Gut für alle. Denn auch die, die kein Geld haben, um es für große Bilder auszugeben, können so aktuelle zeitgenössische Kunst sehen. „Und die 20 Sammler*innen, die auch da sind, gehen in der Menge unter. Es stürzt sich keiner auf sie“, sagt Schrader. Nach zwei Tagen ist alles wieder vorbei. Es wird abgebaut. „Das startet ruhig, und dann feiert man eben doch bis vier Uhr in der Nacht, und es ist richtig, richtig gut.“

Erfolg mal anders definiert

Es ist ein gigantischer Markt, auf dem der Hamburger agiert. Und es ist ein Markt, auf dem seit jeher eine Regel gilt: Erfolgreich wird, wer es schafft, von einer der großen Galerien aufgegriffen zu werden. Denn dann gibt es anschließend die Chance, in einem der großen Museen ausgestellt zu werden. Dem Museum of Modern Art oder der Tate Modern. Doch dann kam das Internet, das den Markt nuanciert und diversifiziert hat. Und damit eben doch für viele Underdogs ein Weg, Erfolg zu haben. Nur drückt der sich anders definiert aus als in der vordigitalen Ära.

Klar, die Geschichte ist arg verkürzt – doch Experten, wie etwa die in New York lebende Kuratorin Roya Sachs, erklären das so: „Das Internet ist ein Tool zur Demokratisierung des Kunstmarkts. Es gibt den Menschen Zugang, die sonst keinen haben.“ Das gilt zuvorderst für die Konsumenten, die sich Kunst ansehen können, ohne dazu ins Museum zu gehen. „Jetzt kann ich eben auch Ausstellungen sehen, die in China oder in Brasilien sind“, sagt sie.

Roya Sachs lebt für die Kunst – in New York. Foto: Roya Sachs

Sachs lebt in New York, aber „die Kunstwelt war immer mein Zuhause“. Sie kommt aus einer Familie großer Namen. Ihr Großvater ist Gunter Sachs, ihr Vater Rolf Sachs. Ein paar Generationen vor ihr taucht auch noch der Name Opel in ihrer Ahnenreihe auf. Vielleicht ist diese Familiengeschichte auch ein Teil ihres Zugangs zur Kunstwelt, in der sie selbst viele Stationen durchlaufen hat. MoMA, natürlich. Auch bei Sotheby’s hat sie gearbeitet.

Ihr Ziel war es, Museumskuratorin zu werden. „Die arbeiten aber sehr oldfashioned“, sagt sie. „Ich wollte schnell eigene Projekte machen.“ Jetzt vermischt sie bei ihren Aktionen die Gattungen miteinander – Musik mit Malerei oder Performancekunst. „Es muss immer neu sein“, sagt sie.
Das Internet hat nicht nur den Zugang der Menschen da draußen zur Kunstwelt verändert.

Das gilt mindestens im gleichen Maße für diejenigen, die Kunst machen. Das ist keine Entwicklung, die vom einen auf den anderen Tag stattgefunden hat, erklärt Sachs, „die Entwicklung läuft über die vergangenen 20 Jahre – und Museen und Künstler*innen haben darauf reagiert“. Neue Räume sind entstanden. Sachs nennt es ein Werkzeug zum Empowerment von Künstler*innenn, denen der Zugang über die Galerien und Museen verwehrt geblieben ist.

„Jetzt hat jeder die Möglichkeit, Entrepreneur zu sein“, sagt Sachs. Nicht nur Menschen, die schreiben, haben nun die Möglichkeit, ihre Texte online zu veröffentlichen. Menschen, die malen, können ihre Werke auf einer eigenen Website zeigen oder über die sozialen Medien. Perfomancekünstler*innen können live in die ganze Welt senden. Menschen können digital durch Installationen gehen – „das ist sehr wirkmächtig“, wie Sachs sagt. Doch das Museum oder die Liveperformance wird das Internet ihrer Ansicht nach nie ersetzen. Vieles, was Kunst ausmacht, gehe im Netz verloren.

Aber es hat sich ein komplementärer Kanal etabliert. Und der erlaubt es, dass Besucher*innen einer Website oder Follower auf Social Media mit den Künstlern*innen und Werken interagieren können. Dass Künstler*innen, die es schaffen, sich eine Follower*innenbasis aufzubauen, große Reichweite erlangen können, versteht sich von selbst. „Es gibt jetzt Künstler*innen, die sehr erfolgreich darin sind, ihre Kunst zu verkaufen, ohne einen Proof aus der klassischen Kunstwelt zu haben“, sagt Sachs. Ein Beispiel dafür ist KAWS.

Dessen Karriere begann als Graffiti-Artist. Er hat in den 90er-Jahren angefangen, Figuren zu zeichnen, damals noch in 2D. Jetzt ist er in den wichtigsten und bekanntesten Museen der Welt zu sehen – etwa im Modern Art Museum of Fort Worth oder im Brooklyn Museum. Auch Banksy ist einer der Künstler*innen, die es geschafft haben, sich am klassischen Kunstmarkt vorbei einen Namen zu machen. Um dann irgendwann eine Anerkennung aus der gediegenen Szene zu bekommen und als etabliert zu gelten.

Andere Wege gehen

Joséphine Sagna lebt und arbeitet ebenfalls in Hamburg. Foto: Joséphine Sagna

Einen ähnlichen Weg, wenn auch (noch) in kleinerem Stil, geht Joséphine Sagna. Sie sagt, dass Erfolg in dieser Welt eben eine Frage der Definition sei – „davon leben können, ohne sich zu verbiegen“. Seit anderthalb Jahren lebt die Wahlhamburgerin von ihrer Malerei, ihr Kundenkreis setze sich aus Privatpersonen oder etwa aus Firmen, die ihre Büros ausstatten wollen, zusammen. Auch ein Hotel hat sie gestaltet. Was sie langfristig auf diesem Markt zu erwarten habe, sei „eine Frage, die ich mir jeden Tag stelle“.

Wenn es im Augenblick gut laufe, sei immer noch die Ungewissheit dabei, ob und wie das so weitergehe: Ganz nach oben kommen, muss und will man das überhaupt? Wenn man doch selbst an seinem Erfolg arbeiten kann. „Gerade erst habe ich wieder Bilder über Instagram verkauft“, sagt Sagna.

Und doch: Kauft ein bekannter Galerist das Werk eine*r Künstler*in, ist das wie ein Qualitätssiegel. Für Schrader kam der erste Proof aber nicht aus der Kunstwelt. Sondern aus der stets an Anschluss interessierten Welt der Mode. Von Luxuslabels wie Dior, Louis Vuitton oder Montblanc. Auch mit Iris von Arnim hat er im vergangenen Herbst einen Pullover rausgebracht. Die Zahl 1989, die vorne auf dem Pulli zu sehen ist, erinnert an den Mauerfall und an Schraders eigene frühe Jahre. Denn in den 90ern begann auch er zu sprayen. Damals war er gerade zwölf Jahre alt. Er sagt auch, dass sich die Kunst, das Malen, durch sein ganzes Leben ziehen würde.

Trotzdem entschied er sich erst für einen völlig anderen Weg: Jurastudium, Promotion in amerikanischem und europäischem Kartellrecht, dann Arbeit in einer angesehenen Kanzlei, auf dem Weg zum Partner. Nach dem Studium dann die ersten Werke. „Am ersten Tag in der Kanzlei habe ich wieder angefangen zu malen“, sagt er. „Nicht, um etwas zu verkaufen. Nur weil ich Lust hatte.“ Trotzdem wird eine Galeristin auf ihn aufmerksam. „Die hat die ersten Bilder gekauft.

Das ist dann einfach so passiert. Nebenher. Ohne Plan.“ Die Arbeitstage in der Kanzlei sind lang – am Ende hat Schrader Urlaub genommen, um Bilder zu malen. „Das waren zwei Fulltime-Jobs“, sagt er. Als er gerade auf dem Weg zur Partnerschaft in der Kanzlei war, gab er seinen Job auf. Um Künstler zu sein. „Ich wusste ja, dass es funktioniert. Die Entscheidung war trotzdem hart“, sagt er.

Ein anderer Termin im Februar. In Schraders Atelier in Hamburg-Ottensen hängen Bilder des Models Stefanie Giesinger. Sie, Schrader und die Fotografin Linda Böse sind eine Kooperation eingegangen. „Instagram ist sehr schnelllebig“, sagt Schrader. „Solche Projekte entschleunigen den Rausch der sozialen Medien“, sagt Giesinger. Es ginge weniger darum, etwas zu verkaufen, als darum, zu dritt etwas zu erschaffen, das über digitales Grundrauschen hinausgeht. Fotografie trifft Kunst trifft Digitalisierung. „Letztlich geht es um die Symbiose mehrerer Welten.“

Drei Leute aus unterschiedlichen Bereichen von sich ähnelnden Branchen bringen unterschiedliche Skills mit. Böse die Fotografie, Schrader die Kunst und Giesinger ihr Gesicht und ihren Fame in den sozialen Medien. Und zusammen gehen sie gleichberechtigt eine Kooperation ein, von der am Ende alle drei profitieren. Manche sagen, dass Künstler*innen wie Damien Hirst Vorbilder waren und Schrader deren Wirken gerade nur perfekt vollendet – Medien nutzen, sich selbst vertreten und vermarkten, in und um den etablierten Kunstmarkt herum zu leben, ohne dessen Konventionen anzuerkennen und anzunehmen.

Zeit der Kunstunternehmer

Und doch ist das Ziel irgendwie immer da: von einem der etablierten Galeristen erkannt und damit im Markt anerkannt zu werden. Denn im Jahr 2020 ist es das, was Schrader noch fehlen könnte. Er sagt: „Wer bestimmt, was Kunst ist, und was ist dieser Kunstkreis eigentlich? Und ist es am Ende vielleicht auch ganz egal?“ Es gäbe da draußen eben viele Meinungen, vor denen man gar nicht so viel Angst haben sollte.

„Am Ende ist mir wichtig, dass ich das machen kann, was mir Spaß macht.“
Schraders Arbeit als Anwalt hat ihm Sicherheit gegeben, karrieremäßig wie auch finanziell. Künstler*innen, die direkt von der Hochschule kommen, starten mit weniger. So oder so ist es schwer genug, auch wenn nicht direkt die Miete und der Kaffee verdient werden müssen. Schrader steht mit seinem Modell jedenfalls zumindest theoretisch in Konkurrenz zu jedem anderen, der in der Aufmerksamkeitsökonomie um Wahrnehmung buhlt.

Er kennt die Ups and Downs auf dem Kunstmarkt: Magnus Resch. Foto: Christian Hauser

Einer, der die Bewegungen der letzten Jahre ganz genau verfolgt hat, ist Magnus Resch. Der ist Dozent in Yale und sieht, dass Galerien im Gegensatz zu Leuten, die ihre Kunst selbst vermarkten, sehr hohe Fixkosten haben. Er spricht deswegen auch von einem Galeriensterben. Natürlich treffe das nicht die ganz, ganz großen, die nach wie vor den Markt beherrschten. Schon aber die, die in niedrigpreisigeren Segmenten arbeiteten.

„Ich spreche da von zwei Welten“, sagt Resch. „Siegerkunst auf der einen Seite“ – und dann die anderen 99,9 Prozent aller Galerist*innen und Künstler*innen. In der einen Welt würden einige wenige Galeristen bestimmen, was Erfolg ist und was nicht, was gekauft wird und was nicht, und damit auch, was im Museum zu sehen ist und was eben nicht. Dieser elitäre Markt ist klein.

Resch spricht von rund 6 000 Sammler*innen, die mehr als 100 000 Dollar pro Jahr ausgeben würden. Andere Stimmen nennen sogar nur 3000 Sammler. Auf der anderen Seite stehe dem ein Überangebot an Künstler*innen entgegen. „Das passt von der Grundstruktur des Marktes gar nicht“, sagt Resch. Das heißt, dass die meisten irgendwann an die gläserne Decke stoßen. Außerdem, sagt Resch, „ist der Markt intransparent“.

Gut, dass gleich auch eine Lösung vorhanden ist – Reschs eigene. Vor einigen Jahren hat er eine App auf den Markt gebracht, die er ganz unbescheiden nach sich selbst benannt hat: Magnus. Der Mann ist ein Vermarktungsgenie, und man versteht, warum Sachs von Kunstunternehmer*innen gesprochen hat. In der Werbung, die Resch bereits 2016 für seine Magnus-App gemacht hat, reitet er am Ende auf einem Esel davon.

Und winkt, den Rücken zur Kamera, dem Zuschauer zu. Bereits ein paar Jahre davor war er mit einem Video bekannt geworden, auf dem er ein paar Sekunden lang auf Skiern einen Hang hinabgleitet und dabei in die Kamera erzählt, dass er bezweifelt, dass andere gerade genauso viel Spaß haben wie er – genau, der „I daut it“-Mann. Resch jedenfalls kann man nicht absprechen, die Wichtigkeit von Haftenbleiben und Viralität verstanden zu haben.

Seine App sollte so etwas sein wie Shazam für Kunst. Man konnte sie kostenlos runterladen, auf einer Karte hat sie die angesagtesten Galerien der wichtigen Kunststädte angezeigt. In den Galerien selbst konnte man ein Bild abfotografieren.

Die App sollte einem die wichtigsten Parameter anzeigen, die ein Bild ausmachen: Wer ist die Künstler*in, von wann ist das Bild, wie viel ist es wert – und vor allem: Wie ist die Verkaufshistorie eines Werks? Resch verkauft seine App als nicht weniger als eine Revolution. Traditionalist*innen sind da eher zurückhaltender. Sie zweifeln den Nutzen solcher Apps an. Ein Experte sagt: „Wenn ich in der Galerie bin, brauche ich doch kein Bild machen. Ich kann den Galeristen doch einfach fragen.“

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