Leadership & Karriere Wir waren in einer Firma zu Besuch, wo alle Chef:in sind

Wir waren in einer Firma zu Besuch, wo alle Chef:in sind

„Medium erklärt Holacracy für gescheitert“, ätzte „t3n“ 2016. „Zappos hat sich still von der Holacracy abgewendet“, berichtete Yahoo 2020. Aber die Unternehmen selbst sehen das ganz anders: Medium-COO Andy Doyle etwa schreibt, dass Holacracy durchaus funktioniere. Sein Team wolle aber vom strengen System weg. Dabei sollen viele der zentralen Prinzipien weiter zum Einsatz kommen. Auch Zappos setzt weiter auf Selbstverantwortung, die Teams arbeiten bis heute wie Kleinunternehmen.

Funktioniert Holacracy?

Kurz gesagt: Ja, wenn das Team mitmacht. Und wenn man weiß, dass die Revolution immer nur der Anfang eines langen, langes Prozesses ist. Wie bei Erdbär. An der Umsetzung arbeitet man bei dem gleichberechtigten Quetschie-Konzern nämlich seit über zwei Jahren. Und das Feedback aus der Belegschaft ist durchaus positiv: Befreiung und Spaß verbindet etwa CSR-Mann Kim-Thore Paulsen mit dem neuen Arbeiten. „Das Modell ist optimal, um schnell und flexibel auf dynamische Rahmenbedingungen zu reagieren“, sagt er.

Seine Kollegin Anna Brunstein freut sich, dass sie sich immer wieder in neue Rollen einfinden kann. Auch ihre Erfahrungen seien durchweg positiv. „Das bedeutet nicht, dass immer alles leicht war oder reibungslos lief, aber dass die positiven Seiten unseres Modells immer überwogen haben und sichtbar waren.“

Julia Adam, deren Rollen Qualitätsmanagement, Arbeitskultur und Entwicklungsbegleitung umfassen, lobt schnelle Entscheidungen. Sie sagt aber auch: „Jede Person muss Verantwortung für ihre Aufgaben übernehmen – das fällt manchen schwer.“ Deshalb achte das Unternehmen bei Bewerbungen auf Lust aufs Selbermachen. Und natürlich hat all das auch mit der Größe der Organisation zu tun: Zappos hat 1 500 Angestellte, Medium knapp 200.

Und wenn es Streit gibt?

Eigentlich ist es der Anspruch von Holacracy, dass Konflikte nicht unter den Teppich gekehrt werden. Bestandteil eines jeden Meetings sind Gespräche über Spannungen: Wenn jemand Probleme feststellt, werden sie benannt, der Kreis sucht eine Lösung. Würden sich viele traditionelle Teams still darüber freuen, wenn ein verhasster Chef offensichtlich auf dem Holzweg ist, will Holacracy die gemeinsame Lösung finden. Erstaunlich oft fällt bei Erdbär die Formulierung „In meiner Rolle als XY sehe ich das so und so“. Klingt banal, ist aber wichtig: Die Kolleginnen trennen persönliche Beziehung von konkreter Aufgabe.

Soziologin Sua-Ngam-Iam sieht darin einen der Vorteile: „In der Holacracy muss eine Person nicht alle Führungskompetenzen mitbringen, sondern die Kompetenzen können auf mehrere Rollen verteilt werden.“

Was sind die Nachteile?

Es ist wie eine WG mit Putzplan, der alles regelt, wo aber niemand gerne putzt. Sua-Ngam-Iam und ihr Bielefelder Kollege Stefan Kühl haben in einer Studie Mitarbeitende von fünf Holacracy-Unternehmen anonym befragt, dabei sind einige Probleme zur Sprache gekommen: In einem Unternehmen etwa gab es einen Kreis, der nicht mehr aktiv war – und niemand merkte es.

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